«Der Schweiz bietet sich eine einmalige Chance»

Steigende Zölle, geopolitische Konflikte und neue Blockbildungen werfen dunkle Schatten auf den globalen Handel. Im grossen Wirtschaftsinterview diskutieren die KOF Direktoren Jan-Egbert Sturm und Hans Gersbach die sich verändernde Weltordnung, die grössten Chancen und Risiken für die Schweiz – und wie sie sich jetzt aufstellen kann.

Fragen: Daniel Ammann und Simon Brunner

Herr Sturm, Herr Gersbach: Erleben wir gerade die Zeit, in der die Globalisierung zu Ende geht? Oder macht sie nur eben mal Pause?
Jan-Egbert Sturm: Die Globalisierung, wie wir sie seit den 1990er Jahren kennen, ist vorbei – aber nicht erst seit heute oder gestern. Die grosse Trendwende kam bereits mit der Finanzkrise 2008. Seitdem erleben wir eine deutliche Verlangsamung der Wachstumsraten des Welthandels. Der Welthandel mit Gütern wächst seither gerade noch, wenn überhaupt, im Gleichschritt mit der globalen Industrieproduktion. Die Frage ist nun, ob sich dieses Verhältnis weiter verschlechtert.

Portrait von Hans Gersbach
«Das grösste Risiko ist eine Eskalation des Handelskonflikts zwischen den USA und China.»
Portrait von Hans Gersbach
Hans Gersbach

Sie gehen davon aus?
Sturm: Das politische Umfeld lässt darauf schliessen: Die Blockbildung zwischen West und Ost nimmt zu und Präsident Trump hat bereits angefangen, hohe Zölle als wirtschaftliches, aber auch als politisches Instrument einzusetzen.

Hans Gersbach: Die geopolitischen Spannungen, vor allem zwischen den USA und China, werden die Handelsströme zwischen den sich bildenden Blöcken insgesamt, also inklusive der Dienstleistungen, in den nächsten Jahren stark unter Druck bringen.

Was wäre ein Worst-Case-Szenario?
Gersbach: Das grösste Risiko ist eine Eskalation des Handelskonflikts zwischen den USA und China. Das hätte massive negative Auswirkungen auf China und die USA selber, aber auch auf die europäischen Länder inklusive der Schweiz, wenn sie nicht mehr mit den beiden grossen Partnern ungehindert handeln könnten. Die Wohlstandsverluste wären, weil dauerhafter, klar grösser als in der globalen Finanzkrise 2008/09 oder in der Covid-Pandemie.

Ein Rückfall in die Zeiten des Kalten Krieges sozusagen?
Gersbach: Wir nennen das extreme Szenario tatsächlich «Kalter Krieg 2.0»: das Risiko, dass sich China und die westliche Welt in getrennte Sphären aufspalten und der Handel zwischen diese Sphären wie damals nicht mehr oder nur noch in geringem Mass möglich ist.

Ist das ein realistisches Szenario?
Sturm: Das Risiko ist vorhanden, aber wir halten es für eher unwahrscheinlich. Ich zeige in Vorlesungen zu diesem Thema immer mein Handy. Stellen Sie sich vor, wir hätten keinen Handel mehr zwischen China und den USA. Dann wäre dieses Gerät weg. Das ist fast unvorstellbar und nicht über Nacht machbar.

Die KOF Konjunkturforschungsstelle hat ein Handelsmodell entwickelt, mit dem Sie berechnen können, was uns ein Handelskrieg kosten würde. Wie gross wäre der Schaden konkret für die Schweiz?
Gersbach: Gehen wir mal nicht vom Worst-Case-Szenario des «Kalten Krieges 2.0» aus und abstrahieren wir vom laufenden Handelskonflikt mit Kanada, Mexiko und China und den sektoralen Zöllen, den wir laufend beobachten und kommentieren. Gehen wir vielmehr als Beispiel von einem Szenario aus, das Präsident Trump im Wahlkampf angekündigt hat: Die USA verhängen Zölle von 60 Prozent gegen China und von 20 Prozent gegen den Rest der Welt, wir nennen das das 60/20-Szenario. Wir haben errechnet, dass in diesem Fall die Schweiz von allen europäischen Ländern am härtesten getroffen würde.

Warum?
Sturm: Die USA haben eine enorme Bedeutung für unsere Wirtschaft. Sie sind inzwischen unser grösster Handelspartner, sogar noch vor Deutschland – nur die EU als Ganzes ist wichtiger für uns. Wenn Trump nun also Zölle erhebt, hat das Folgen für die Schweiz.

Was heisst das in Zahlen?
Gersbach: Konzentrieren wir uns nur auf die Handelseffekte – und vernachlässigen wir mögliche Zweitrundeneffekte – rechnen wir mit einem Rückgang des Handelsvolumens mit den USA um 15 bis 20 Prozent. Unser Bruttoinlandprodukt würde um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte weniger wachsen.

0,2 bis 0,3 Prozentpunkte weniger Wachstum klingen für Laien nicht gerade dramatisch.
Sturm: Die Welt ginge nicht unter. Für uns als Ökonomen sind das aber grosse Effekte. Unsere Wirtschaft würde zwar noch wachsen, aber deutlich schwächer als bisher. Kumuliert über ein Jahrzehnt sind das grosse Summen, über die wir reden. Unser aktuelles Potenzialwachstum liegt bei 1,6 Prozent – so stark können wir voraussichtlich unsere Produktion ausbauen. Im erwähnten 60/20-Szenario sinkt unser Potentialwachstum auf 1,5 Prozent. Das entspricht 10 bis 15 Prozent weniger Wachstum!

Welche Branchen würden darunter leiden?
Sturm: Von amerikanischen Importzöllen wären alle wichtigen Exportsektoren betroffen wie zum Beispiel die Hersteller von Maschinen, Präzisionsinstrumenten, Uhren oder Lebensmitteln. Am härtesten würde es aber die Pharma-Branche treffen. Das wäre für die Schweiz einschneidend. Sie ist unser stärkster Wachstumsmotor und wuchs in den letzten zwei Dekaden durchschnittlich um rund zehn Prozent pro Jahr. Und viele unserer Pharma-Exporte gehen in die USA.

Gersbach: Der chemisch-pharmazeutische Bereich ist mit Abstand der bedeutendste Sektor der Schweizer Exportwirtschaft. Er macht etwa die Hälfte unseres Exportvolumens aus, wenn man den Handel mit Wertsachen wie Gold ausklammert, und trägt in diesem Jahr bereits rund 7 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei. Da ist die Schweiz besonders verwundbar. Der Biosecure Act zum Beispiel, den die USA derzeit planen, würde gewisse chinesische Zulieferer auch für Schweizer Pharmaunternehmen ausschliessen, wenn sie in den USA operieren wollen. Noch ist unklar, ob und wann das Gesetz in Kraft tritt, aber es zeigt, welche Gefahren in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen China und den USA für Drittländer lauern. 

Sturm: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir losgelöst von den geopolitischen Verwerfungen gleichzeitig mit grossen Strukturproblemen umgehen müssen.

Portrait von Jan-Egbert Sturm
«Wenn die Schweiz etwas gut kann, ist es genau das: sich anpassen, flexibel und agil sein.»
Portrait von Jan-Egbert Sturm
Jan-Egbert Sturm

Woran denken Sie?
Sturm: An die vier D, die grossen Fragen unserer Zeit. Demographie: Die Gesellschaft altert und die erwerbstätige Bevölkerung schrumpft. Dekarbonisierung: Die Umweltsituation bedingt, dass wir andere Produktionsprozesse finden müssen.  Digitalisierung: Sie hat jetzt schon einen grossen Einfluss auf unsere Arbeitswelt und die Künstliche Intelligenz wird das noch verstärken. Deglobalisierung: haben wir ja schon besprochen.

Was müssen wir tun, um uns diesen neuen Gegebenheiten anzupassen?
Sturm: Wenn die Schweiz etwas gut kann, dann ist es genau das: sich anpassen, flexibel und agil sein. Das machen wir schon seit Jahrzehnten. Die Schweiz hat eine flexible Wirtschaftsstruktur. Das ist eine ihrer grossen Stärken, auch dank des Schweizer Frankens.

Gersbach: Entscheidend ist es jetzt, rasch die Spannung im handelspolitischen Bereich aufzulösen: Die Schweizer Regierung ist momentan daran, das Freihandelsabkommen mit China zu revidieren und auszubauen. Gleichzeitig muss sie möglichst schnell mit der Trump-Administration die handelspolitischen Fragen angehen. Da sind wir in einer ungemütlichen Sandwich-Situation und könnten direkt in die Konfliktlinie USA-China geraten. Trump könnte sagen: Wir verhandeln nur mit euch weiter, wenn Ihr nicht mit den Chinesen sprecht.

Sturm: Die Schweiz hat in dieser Situation aber auch Chancen. Sie kann sich vielleicht besser aufstellen als unsere Nachbarn in der EU: Die Hoffnung ist, dass sie als kleiner Spieler einen Weg findet, eine Sonderposition zwischen den Blöcken einzunehmen, um nach wie vor mit allen Ländern Güter und Dienstleistungen handeln zu können.

Nach den USA ist Deutschland unser wichtigster Handelspartner. Unserem Nachbarland geht es wirtschaftlich schlecht. Ein Bonmot lautet: Wenn Deutschland hustet, kriegt die Schweiz eine Grippe. Müssen wir uns warm anziehen?
Sturm: Das Bonmot gilt im Grossen und Ganzen immer noch. Die deutsche Autoindustrie zum Beispiel ist für Schweizer Zulieferer sehr wichtig. Die Schweizer Industrie ist, wenn man den Pharma-Sektor ausklammert, meistens sehr ähnlich unterwegs wie die deutsche. Unsere jüngsten Konjunkturumfragen deuten nun aber auf eine gewisse Entkoppelung hin: In Deutschland sinkt die Stimmung in der Industrie immer weiter, in der Schweiz sehen wir eine gewisse Stabilisierung. Das grosse Glück der Schweiz ist, dass wir eine viel stabilere Binnenkonjunktur haben und natürlich die Pharma-Industrie. Darum stehen wir insgesamt deutlich besser da als Deutschland.

Was läuft schief in Deutschland?
Gersbach: Es sind verschiedene Faktoren, die zusammenspielen. Die Abhängigkeit von russischem Gas und der schnelle Atomausstieg haben im Zuge des Krieges gegen die Ukraine die Strom- und Energiepreise erhöht, die vor allem die Grundstoffindustrie trafen. Dazu kommen seit Längerem einige ungünstige Rahmenbedingungen, verpasste Produktivitätsfortschritte durch die Digitalisierung und aktuell die Auto-Krise eine Stop-and-Go-Politik der Regierung und die induzierte politischen Unsicherheit. Das alles hat Investitionsentscheidungen verzögert oder sie ganz verhindert.

Sturm: Man muss auch sagen: Deutschland hatte weltpolitisches Pech. Sie wetteten auf russisches Gas – und dann griff Russland die Ukraine an. Im Nachhinein sind alle schlauer, doch damals gab es wenige kritische Stimmen, die vor der Abhängigkeit von Russland warnten.

Wie könnten sich die Wahlen in Deutschland auf die Schweiz auswirken?
Gersbach: In fast allen Szenarien eher positiv.

Sturm: Ich hoffe, die neue Regierung kann eine gewisse Klarheit schaffen und die herrschende Unsicherheit brechen. Es braucht ein Umfeld, in dem man als Privatunternehmen wieder bereit ist, in die Zukunft zu investieren. Das ist für mich die grösste Sorge in Deutschland: die Investitionsschwäche, die schon seit einigen Jahren anhält.

Welche Branchen oder Technologien bieten die besten Zukunftschancen für die Schweiz?
Gersbach: In allen Branchen gibt es Zukunftschancen. Bei der Technologie ist natürlich KI im Fokus. Die Schweiz wird idealerweise zu einem globalen Hub für Künstliche Intelligenz. Das Ökosystem dafür ist vorhanden. KI ist, was wir eine General-Purpose-Technologie nennen: Sie wird alle Branchen und die ganze Gesellschaft durchdringen. Sie bietet uns alle Voraussetzungen, zu einem starken Standbein in der Schweiz zu werden.

Was braucht es dafür?
Gersbach: Die Schweiz ist bereits gut aufgestellt. Wir haben hervorragende Grundlagenforschung, sowohl an der ETH und EPFL wie auch an den Universitäten. Wir haben gut ausgebildete Fachkräfte. Wir haben Start-ups und die führenden Tech-Unternehmen und Anbieter von KI-Werkzeugen der Welt sind hier. Es gibt – zumindest für die Frühphasen – genügend Startup-Finanzierung. Kurz: Das Ökosystem ist vorhanden. Nun müssen wir schauen, dass wir die KI schlanker regulieren als die EU, eine gute Balance zwischen Risikokontrolle/Risikovermeidung und KI-Entwicklung finden und so den Innovatoren und Unternehmen mehr Luft zum Atmen geben als die EU. Dann haben wir eine einmalige Chance.

Testen Sie uns: Liegen wir richtig?

Die KOF Führung macht Vorhersagen, wie die Welt am 31. Dezember 2025 aussehen wird.

Wirtschaftswachstum Schweiz?
1.6% – dicht am Potenzialwachstum.

Wird es höhere Importzölle in die USA geben?
Ja.

Eurokurs gegenüber Schweizer Franken?
Der Franken wird ein Prozent stärker – das entspricht ungefähr der Inflationsdifferenz zwischen der EU und der Schweiz.

Dollarkurs gegenüber Schweizer Franken?
Aufgrund des Inflationsgefälles besteht ein langfristiger Abwertungstrend des Dollars gegenüber dem Schweizer Franken. Die Aufwertung seit Bekanntgabe des Wahlausgangs in den USA zeigt, dass ein gewisser Politikwechsel in den USA bereits eingepreist ist. Da aber nicht klar ist, was der neue Präsident genau umsetzen wird, ist davon auszugehen, dass dieser Kurs in den nächsten Monaten, wenn nicht Jahren, volatil bleiben wird.

SNB-Leitzins am 31. Dezember 2025?
Tiefer als am 1. Januar 2025.

Negativzinsen?
Möglich, aber unwahrscheinlich.

Freihandelsabkommen mit den USA?
Wohl nicht die Priorität von Trump, trotzdem nicht undenkbar – aber sicher nicht bis Ende 2025.

Den Reality-Check lesen Sie im Januar 2026.

Ansprechpersonen

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • LEE G 305
  • +41 44 632 50 01

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Prof. Dr. Hans Gersbach
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE F 101
  • +41 44 632 82 80

Makroökonomie, Gersbach
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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