Die EU in der Krise – eine wirtschaftliche Bestandsaufnahme

In der Europäischen Union fehlt es derzeit an konjunktureller Dynamik. Darüber hinaus bremsen der demographische Wandel und ungelöste strukturelle Probleme die wirtschaftliche Entwicklung. Auf die neue EU-Regierung warten nach den Europawahlen im Juni grosse Aufgaben. Die KOF Experten für die internationale Konjunktur haben die Situation in den drei grössten EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Italien analysiert.

Die Europäische Union ist mit einer Bevölkerung von 450 Millionen Menschen und einem Bruttoinlandprodukt (BIP) von über 15 Billionen Euro einer der grössten Wirtschaftsräume der Welt und gleichzeitig wichtigster Handelspartner der Schweiz.

Doch Europa fehlt es schon seit längerer Zeit an wirtschaftlicher Dynamik. Das macht vor allem ein Vergleich mit der BIP-Entwicklung pro Arbeitsstunde in den USA deutlich (siehe Grafik G 2). Die Liste der Probleme der europäischen Volkswirtschaften ist lang: Der Widerstand gegen Reformen ist generell hoch, viele strukturelle Probleme sind ungelöst. Beispielsweise hinkt man bei der Digitalisierung hinterher und auf den demographischen Wandel wurde bisher keine adäquate Antwort gefunden. Ausserdem ist die EU aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischem Gas deutlich stärker vom Ukraine-Krieg und seinen Folgen betroffen als andere Wirtschaftsräume. Zudem haben viele asiatische Volkswirtschaften wirtschaftlich und technologisch zu Europa aufgeholt. Aktuell bedroht beispielsweise die chinesische Konkurrenz mit günstigen Elektroautos die klassische deutsche und französische Autoindustrie.

Vergrösserte Ansicht: G 2: Reales Bruttoinlandprodukt pro Arbeitsstunde (Index, Jahr 2000= 100)
G 2: Reales Bruttoinlandprodukt pro Arbeitsstunde (Index, Jahr 2000= 100)

Vom 6. bis 9. Juni wählen die EU-Bürger und -Bürgerinnen ein neues Parlament. Nach der Europawahl besteht eine der ersten Aufgaben des neu gewählten Parlaments darin, den neuen Präsidenten oder die neue Präsidentin der Europäischen Kommission zu wählen. Auf die neue EU-Regierung warten grosse Aufgaben. Gleichzeitig hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die etablierte Politik. In vielen Ländern wie Frankreich (Rassemblement National) oder Deutschland (AfD) erreichen rechtspopulistische Parteien hohe Umfragewerte oder haben sogar, wie in Italien (Fratelli d’Italia), die Regierungsmacht erobert.

Wir haben diese komplexe politische und wirtschaftliche Gemengelage vor den Europawahlen zum Anlass genommen, die drei grössten EU-Länder Deutschland (84 Millionen Einwohner), Frankreich (68 Millionen Einwohner) und Italien (59 Millionen Einwohner) genauer unter die Lupe zu nehmen und ihre jeweiligen konjunkturellen und wirtschaftspolitischen Herausforderungen im Detail zu analysieren. Nach dem Brexit stellen diese drei Länder fast die Hälfte der EU-Bevölkerung. Die Analyse ergibt, dass die Konjunktur unter anderem aufgrund der nachlassenden Inflation in der zweiten Jahreshälfte wieder anziehen dürfte, während das Erreichen eines höheren Wachstumspfads vom Gelingen wirtschaftspolitischer Reformen abhängig ist.

Deutschland

Vergrösserte Ansicht: Das Brandenburger Tor in Berlin. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist gesunken.
Das Brandenburger Tor in Berlin. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist gesunken.

Wie läuft es derzeit konjunkturell in Deutschland?
Die konjunkturelle Schwäche hält in Deutschland weiter an. Ein politisch unsicheres Umfeld, schwache Beschäftigungsabsichten der Unternehmen und vergangene Krisen belasten die Konsumentenstimmung, was zu Konsumzurückhaltung führt. Produzenten von Investitionsgütern leiden unter der restriktiven Geldpolitik, insbesondere in der Automobilindustrie. Die Exportindustrie kann mit der weltwirtschaftlichen Erholung nicht mithalten und die Wettbewerbsfähigkeit bei energieintensiven Gütern hat gelitten. Jedoch wird die Konjunktur voraussichtlich im Laufe des Jahres wieder an Schwung gewinnen, dank normalisierter Inflation, niedrigerer Energiepreise, steigender Reallöhne und Aussichten auf sinkende Zinsen.

Was sind die grossen (wirtschafts-)politischen Themen für Deutschland?
Um die Transformation der deutschen Wirtschaft voranzutreiben, schnürte die deutsche Politik den Klima- und Transformationsfond (KTF). Die Klage des Bundesverfassungsgerichts gegen eine Umbuchung von Pandemiekrediten auf den Transformationsfond sowie die daraus resultierende Haushaltssperre entfachten die Diskussi on einer Revision der Schuldenbremse. Neben der Dekarbonisierung, der Digitalisierung und der Sanierung der öffentlichen Infrastruktur sind auch die bessere Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, die Revision des Bürgergeldes sowie das Militärbudget Themen, zu denen die Politik Klarheit schaffen muss.

Vergrösserte Ansicht: G 3: Konsumentenstimmung in Deutschland
G 3: Konsumentenstimmung in Deutschland

Was sind die grossen ökonomisch-strukturellen Herausforderungen für Deutschland derzeit?
Die konjunkturelle Erholung wird voraussichtlich gemässigt ausfallen, da strukturelle Probleme das Wachstumspotenzial schwächen. Deutschland leidet unter demographischer Alterung. Eine positive Nettozuwanderung stützt das Bevölkerungswachstum, verschärft jedoch den qualifikationsbedingten Mismatch am Arbeitsmarkt, der ohnehin unter Arbeitskräftemangel und tiefer Arbeitsproduktivität leidet. Zudem belasten ein hoher Bürokratisierungsgrad und mangelnde Innovation im Technologiebereich die Wirtschaft.

Frankreich

Vergrösserte Ansicht: Der Eiffelturm in Paris. Wie andere Länder erlebte Frankreich eine konjunkturelle Schwächephase.
Der Eiffelturm in Paris. Wie andere Länder erlebte Frankreich eine konjunkturelle Schwächephase.

Wie läuft es derzeit konjunkturell in Frankreich?
Wie andere Länder erlebte Frankreich im zweiten Halbjahr 2023 eine konjunkturelle Schwächephase. Der Rückgang der Inflation, Rentenerhöhungen sowie erhöhte Spareinkommen stärken derzeit jedoch die Kaufkraft der Haushalte und dürften den Privatkonsum beleben. Die Investitionen, insbesondere im Bau, dürften aufgrund der restriktiven Geldpolitik auch im ersten Halbjahr 2024 negativ ausfallen. Die Luftfahrtindustrie sticht mit einer positiven Sonderkonjunktur heraus.

Was sind die grossen (wirtschafts-)politischen Themen für Frankreich?
Die Kaufkraft der Haushalte, traditionell ein wichtiges Debattenthema, ist angesichts des vergangenen Inflationsschubs derzeit mehr denn je im Fokus. Zudem bleibt der soziale Ausgleich ein Dauerbrenner. Zwar dürfte die Reformpolitik unter Präsident Emmanuel Macron ein Faktor für das gute wirtschaftliche Abschneiden Frankreichs in den vergangenen Jahren sein. So verzeichnet die Arbeitslosigkeit einen Abwärtstrend und stieg zuletzt trotz der schwachen Konjunktur nur wenig an. Doch hat die wenig konsensuale Durchsetzung der Reformen das Gefühl der Marginalisierung bei verschiedenen Gruppen verstärkt, was wiederkehrend (gewalttätige) Proteste nach sich zieht, so die «Gilets jaunes» im Winter 2018/19, die Demonstrationen gegen eine Erhöhung des Rentenalters im vergangenen Jahr und die kürzlichen Bauernproteste. Damit geht ein Erstarken der extremen Rechten einher, die zudem von identitäts- und sicherheitspolitischen Debatten profitiert.

Vergrösserte Ansicht: G 4: Bruttoverschuldung des Staates in % des BIP
G 4: Bruttoverschuldung des Staates in % des BIP

Was sind die grossen ökonomisch-strukturellen Herausforderungen für Frankreich derzeit?
Mit einer Staatsverschuldung von rund 110% des BIP gehört Frankreich zu den Spitzenreitern in Europa. Trotz eines Rückgangs in den vergangenen Jahren ist der Aufwärtstrend ungebrochen. Immerhin wird die Erhöhung der Zinsbelastung im Euroraum für Frankreich aufgrund langer Anleihelaufzeiten erst mittelfristig akut. Die Herausforderung besteht darin, eine nachhaltigere Finanzpolitik zu erreichen, ohne die wirtschaftliche Dynamik auszubremsen und den sozialen Frieden zu gefährden. Bei zwei weiteren Herausforderungen hat die französische Politik klare und innenpolitisch weithin anerkannte Antworten gegeben: Hinsichtlich Klimawandel und der Energiesicherheit setzt man auf Kernkraft; neue Reaktoren sind geplant. Bei der Geo-Industriepolitik ist man – ganz im Sinne des Colbertismus – auf die Subventionierung von Grossinvestitionen ausgerichtet.

Italien

Vergrösserte Ansicht: Der schiefe Turm von Pisa. Demographische Probleme belasten die italienische Wirtschaft.
Der schiefe Turm von Pisa. Demographische Probleme belasten die italienische Wirtschaft.

Wie läuft es derzeit konjunkturell in Italien?
Die Konjunktur in Italien hat sich zuletzt nur schwach entwickelt. Neben den stark gestiegenen Energiepreisen, die zu einem Nachlassen des privaten Konsums geführt haben, belasten zunehmend restriktive Finanzbedingungen die Investitionsdynamik. Zudem lässt der Wachstumsimpuls aus den Wohnungsbauinvestitionen, die von fiskalischen Subventionen des Superbonus-Programms profitierten, nach. Die Konjunktur wird insbesondere im nächsten Jahr aufgrund einer weiter nachlassenden Inflation, steigender Reallöhne und weniger restriktiven Geldpolitik wieder etwas an Fahrt aufnehmen.

Was sind die grossen (wirtschafts-)politischen Themen für Italien?
Italien steht vor dem Problem einer alternden Bevölkerung, sinkenden Geburtenraten und einer Abwanderung von Fachkräften, welche zu einer Belastung des Gesundheits- und Rentensystems führen. Weiterhin belasten strukturelle Probleme, zu denen eine ineffiziente Bürokratie, ein langsamer Genehmigungsprozess für Investitionen, eine veraltete Infrastruktur und ein Mangel an technischer Innovation gehören, das langfristige Wachstum. Der effiziente Einsatz der Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität, Kernelement des Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, wird massgeblich bei der Umsetzung von Strukturreformen sein. Zudem könnte das zunehmende Ungleichgewicht zwischen den Nord- und Südregionen des Landes langfristige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und soziale Stabilität haben. Dabei stellt insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, die im Süden mit etwa 37% mehr als doppelt so hoch wie in den Nordregionen ist, ein Problem dar.

Vergrösserte Ansicht: G 5: Jugendarbeitslosigkeit in Italien
G 5: Jugendarbeitslosigkeit in Italien

Was sind die grossen ökonomisch-strukturellen Herausforderungen für Italien derzeit?
Die hohe Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit zählen zu den wichtigsten Herausforderungen Italiens. Mit knapp 140% des Bruttoinlandsprodukts ist die italienische Staatsverschuldung eine der höchsten im Euroraum, schränkt damit die finanzielle Flexibilität der Regierung für notwendige Investitionen ein und belastet den Haushalt mit hohen Zinszahlungen. Strategien, die die Verschuldung reduzieren und gleichzeitig die öffentlichen Dienstleistungen aufrechterhalten, sind dabei unumgänglich, um die Stabilität des Finanzsystems sicherzustellen. Zudem gehören Reformen des Steuersystems, des Arbeitsmarktes und des Unternehmensumfeldes sowie Massnahmen zur Förderung der Digitalisierung zu den weiteren politischen Aufgaben, um die Haushalte und Unternehmen zu entlasten und inländische Investitionen zu fördern.

Ansprechpersonen

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KOF FB Konjunktur
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Dr. Thomas Domjahn
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KOF Bereich Zentrale Dienste
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