«Die Schweiz steht unter Zugzwang»

Jan-Egbert Sturm

KOF Direktor Jan-Egbert Sturm spricht über das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union und analysiert die Chancen und Risiken bei den neuerlichen Verhandlungen zu den bilateralen Verträgen.

Vergrösserte Ansicht: Verhandlungen Schweiz EU
Die Schweiz und die Europäische Union befinden sich derzeit in Verhandlungen über bilaterale Verträge. Dabei steht einiges auf dem Spiel. «Für die Schweiz ist es kaum vorstellbar, ohne eine solide Zusammenarbeit mit Europa weiterhin wirtschaftlich zu prosperieren», sagt KOF Direktor Jan-Egbert Sturm. Bild mit KI erzeugt.

Nach den gescheiterten Verhandlungen zum Rahmenabkommen haben die Schweiz und die Europäische Union einen Anlauf für neue Verhandlungen gestartet. Wie optimistisch sind Sie, dass es diesmal mit einer Einigung klappt?
Auch wenn ich optimistisch bin, kann ein Scheitern nicht ausgeschlossen werden. Die Schweiz steht unter einem gewissen Zugzwang. Das übrige Europa kann um die Schweiz herum agieren, auch wenn es für die EU mit einer integrierten Schweiz einfacher ist. Umgekehrt ist die Schweiz wirtschaftlich stark von Europa abhängig. Für die Schweiz ist es kaum vorstellbar, ohne eine solide Zusammenarbeit mit Europa weiterhin wirtschaftlich zu prosperieren.

Wie würden Sie derzeit das wirtschaftliche Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU charakterisieren?
Die Schweiz liegt im Herzen Europas und ist eine offene Volkswirtschaft. Trotz der Diskussion um eine «Deglobalisierung» ist die Schweiz tendenziell immer stärker in die Weltwirtschaft – und damit auch in die europäische Wirtschaft – integriert. Daher sind die wirtschaftlichen Beziehungen stärker denn je (siehe Grafik G 1).

Vergrösserte Ansicht: G 1: Warenhandel der Schweiz mit der Europäischen Union Anteil an den Gesamtexporten bzw. -importen der Schweiz in Prozent (saisonbereinigt)
G 1: Warenhandel der Schweiz mit der Europäischen Union Anteil an den Gesamtexporten bzw. -importen der Schweiz in Prozent (saisonbereinigt)  

Und wie ist das politische Verhältnis?
Politisch haben sich die Wogen nach den Irritationen auf Seiten der EU um den Abbruch der Verhandlungen vor drei Jahren wieder geglättet. Zudem ist der Brexit vollzogen und geregelt. Damals wollte die EU der Schweiz keine Zugeständnisse machen, welche die Verhandlungsposition der EU gegenüber Grossbritannien geschwächt hätte. Jetzt könnte für die Schweiz wieder mehr möglich sein.

Spürt die Schweiz schon konkrete Verschlechterungen dadurch, dass es noch keine Einigung mit der EU gibt?

Die meisten Prozesse verlaufen schleichend. Deshalb nehmen wir sie im Alltag nicht so wahr. Aber ohne einen zukunftsweisenden, gesicherten bilateralen Weg verliert die Schweiz Jahr für Jahr Zehntelprozentpunkte an Wachstum. Das hört sich nach wenig an, führt aber über die Jahre zu einem signifikanten Wohlstandsverlust. In der Wissenschaft beispielsweise wird es schwieriger, internationale Forschungsgelder zu akquirieren, was die Schweiz für Spitzenforschende weniger attraktiv macht. Dies könnte sich langfristig auf die Innovationskraft der Schweiz auswirken.

«Ohne Zuwanderung hätte die Schweiz in den letzten 20 Jahren nicht so stark wirtschaftlich wachsen können.»
Jan-Egbert Sturm, Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle

Was ist der grosse Streitpunkt bei den Verhandlungen mit der EU?
Es geht vor allem um die Regelung der Einwanderung. Dagegen gibt es in der Schweiz derzeit starken innenpolitischen Widerstand von einer Allianz aus dem rechten und linken Lager. Sowohl rechtspopulistische Kreise als auch die Gewerkschaften befürchten, dass eine zu starke Einwanderung die Situation der Schweizer Arbeitnehmenden bzw. der einheimischen Bevölkerung verschlechtert.

Die Briten hatten auch Bedenken gegen zu viel Einwanderung. Nach dem Brexit hatten sie einen Mangel an Erntehelfern und Erntehelferinnen, Lastwagenfahrern und Lastwagenfahrerinnen sowie an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Schlachthöfen.
Ohne Zuwanderung hätte die Schweiz in den letzten 20 Jahren nicht so stark wirtschaftlich wachsen können. Der demographische Wandel wird den Bedarf an ausländischen Fachkräften in der Schweiz tendenziell weiter erhöhen. Insofern kann die Schweiz aus den Fehlern der Briten lernen.

Falls es mit der EU zu keiner Einigung kommt, wäre es für die Schweiz auch eine Option, stärker in Ländern mit einer jüngeren Bevölkerung wie zum Beispiel Indien Fachkräfte zu rekrutieren?
Ja, rein wirtschaftlich gesehen schon. Man darf aber nicht vergessen, dass Migration oft auch soziale Spannungen mit sich bringt. Es ist einfacher, Fachkräfte aus demselben Sprach- und Kulturkreis zu rekrutieren, weil die Integration leichter fällt.

Südkorea und Japan hatten über lange Zeiträume kaum Einwanderung. Nun ändert sich auch dort aus der Not heraus das Mindset in der Gesellschaft sowie der Politik und diese Länder öffnen sich mehr für Zuwanderung. Glauben Sie, dass es langfristig aufgrund des demographischen Drucks auch in der Schweiz zu einem Umdenken kommt?
Anreize ändern das Verhalten. Aber solche Prozesse brauchen Zeit. Rückblickend wäre es für Japan und Südkorea wirtschaftlich besser gewesen, sich früher für ausländische Arbeitskräfte zu öffnen. Im Gegensatz zu Japan und Südkorea ist die Schweiz seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland.

«Für einen Abgesang auf Europa ist es noch zu früh. Europa lebt von seiner Geschichte und seiner kulturellen Vielfalt.»
Jan-Egbert Sturm, Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle

Wie schätzen Sie es ein: Ist ein Beitritt zur EU eine realistische Option für die Schweiz?
Man soll nie nie sagen, aber aus heutiger Sicht kann ich mir nicht vorstellen, dass ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit eine politisch realistische Option wird.

Die weltweit führenden Software- und Hardwarefirmen wie Microsoft, Apple, Google, Nvidia, Tencent, Alibaba, Samsung oder TSMC kommen fast ausschliesslich aus den USA oder Asien. Kritiker warnen, dass Europa aufgrund seiner fehlenden Dynamik immer mehr zum rückwärts orientierten «Freilichtmuseum» wird, während die grossen Innovationen in anderen Teilen der Welt stattfinden. Ist diese Kritik berechtigt?
Für einen Abgesang auf Europa ist es noch zu früh. Europa lebt von seiner Geschichte und seiner kulturellen Vielfalt. Der Wohlstand in Europa ist nach wie vor sehr hoch und wird es noch lange bleiben. Europa hat nach wie vor in vielen Bereichen einen komparativen Vorteil. Viele Innovationen stammen aus Europa. Dafür muss man gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen. Die Corona-Impfung zum Beispiel, die auf mRNA-Technologie basiert, wurde von einem deutschen Unternehmen entwickelt. Die derzeit viel diskutierte Abnehmspritze stammt von einer dänischen Firma. Auch im Bereich Digitalisierung und Halbleiter hat Europa mit SAP aus Deutschland und ASML aus den Niederlanden zwei Schwergewichte. Hinzu kommen viele erfolgreiche KMU und Start-ups, auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wie Mistral aus Frankreich oder Aleph Alpha aus Deutschland. Europa kann selbstbewusst sein und muss sich vor konkurrierenden Wirtschaftsräumen nicht verstecken. Wenn es gelingt, die traditionell gute Ingenieurskunst im Automobil-, Maschinen- und Elektrogerätebau und den Innovationsgeist im Pharma- und Chemiesektor mit neuen digitalen Technologien und Geschäftsmodellen zu verknüpfen, kann Europa im internationalen Wettbewerb neuen Schwung entwickeln und seine alten Stärken weiter ausbauen.

Ansprechpersonen

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • LEE G 305
  • +41 44 632 50 01

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Ähnliche Themen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert