Neue Anreize für die Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotika
Schätzungsweise 33000 Menschen sterben jedes Jahr in der Europäischen Union an den Folgen einer Infektion mit antibiotikaresistenten Keimen. Weltweit wird die Anzahl der mit antimikrobiellen Resistenzen (AMR) in Verbindung gebrachten Todesfälle pro Jahr auf mehr als 5 Millionen geschätzt. Neue Antibiotika sollten dringend entwickelt werden. Doch für Unternehmen ist dies oft nicht rentabel. Damit die Entwicklung neuer Antibiotika für Firmen attraktiv wird, braucht es ökonomische Anreize.
Antimikrobielle Resistenzen stellen Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt vor immer grössere Probleme. Allein in der EU sind antibiotikaresistente Bakterien gemäss Schätzung einer ECDC Studie aus dem Jahr 2018 jedes Jahr für etwa 33000 Todesfälle verantwortlich. Die damit verbundenen Gesundheitskosten und Produktivitätsausfälle betragen jährlich mindestens 1,5 Milliarden Euro. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie des internationalen Forscherteams “Antimicrobial Resistance Collaborators” zeigte, dass Antibiotikaresistenzen im Jahr 2019 direkt für mehr als 1 Million Todesfälle verantwortlich waren und mit fast 5 Millionen Todesfällen weltweit in Verbindung gebracht werden. Die globale AMR-Krise ist damit so einschneidend wie HIV oder Malaria, und potentiell gravierender.
Trotz der enormen Auswirkungen von AMR trägt diese globale Gesundheitskrise den Beinamen „Schattenpandemie“. Im Vergleich zu COVID-19 und anderen Infektionskrankheiten vollziehen sich die Ausbreitung von Resistenzen und deren Effekte auf Gesundheitssysteme auf einer langsameren Zeitskala. Eine der grössten Herausforderungen in der AMR-Krise ist ein dysfunktionaler Forschungs- und Entwicklungsmarkt (F&E-Markt) für Antibiotika, so dass nicht genügend neue Antibiotika gegen resistente Bakterienstämme entwickelt werden. Wie bei allen pharmazeutischen Produkten ist die Entwicklung von Antibiotika sehr kostenintensiv, doch sollten neue Antibiotika häufig nur begrenzt eingesetzt werden, um die Entstehung neuer Resistenzen zu verlangsamen. Dieses Dilemma führt dazu, dass es unter den bestehenden Marktbedingungen nicht rentabel ist, Antibiotika herzustellen. Verschiedene Massnahmen wurden bereits gegen dieses Problem unternommen. In diesem Beitrag stellen wir weitere Schritte vor, die helfen sollen, die Aktivität im F&E-Markt für Antibiotika deutlich zu erhöhen.
Anreizsysteme für den Antibiotika-Markt
Seit über drei Jahrzehnten erreichen keine neuen, bedeutenden Antibiotikaklassen die Marktzulassung. Auch wird eine stetige Zunahme von Resistenzen gegen sogenannte “Reserveantibiotika“ beobachtet. Diese wurden für den gezielten Einsatz gegen ursprünglich seltene, multiresistente Keime entwickelt.
Für Pharmaunternehmen gibt es wenige Chancen und viele Risiken bei der Investition in Antibiotika-Forschung und Entwicklung. Die Kosten in der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung können sich auf deutlich mehr als 1 Milliarde US-Dollar pro Medikament belaufen, und nur mit einer geringen Chance schaffen es die potentiellen Medikamente schliesslich auf den Markt. Im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln sollten neue Antibiotika zudem nach der Marktzulassung so wenig wie möglich verwendet werden, um die Entwicklung von Resistenzen zu verlangsamen.
Um dieses Marktproblem zu lösen, können verschiedene Push- und Pull-Anreize eingesetzt werden. Push-Anreize beinhalten zum Beispiel finanzielle Unterstützungen für Biotech Start-Ups, die Antibiotika erforschen und entwickeln. Diese Unterstützungsleistungen sind essentiell für viele kleine Firmen, die in diesem Bereich aktiv sind. Zusätzlich bieten sich Pull-Anreize auf dem Weg zur Marktzulassung an. Eine Möglichkeit sind Prämienzahlungen nach erfolgreicher Marktzulassung. In seiner Rolle als derzeitiger G7-Vorsitz arbeitet Japan zusammen mit internationalen Partnern an einem Vorschlag für ein globales Pull-Anreizsystem. Auch in den USA wird seit einigen Jahren der PASTEUR Act als Mechanismus für gezielte Pull-Anreize im Milliardenbereich diskutiert. Ähnliche Motionen, die in der Schweiz in den Jahren 2019 und 2020 eingebracht wurden, hat der Bundesrat abgelehnt, mit Hinweis auf die enormen Kosten, welche eine internationale Zusammenarbeit und Finanzierung notwendig machen würde.
Neben der Implementierung von Push- und Pull-Anreizen muss sichergestellt werden, dass Antibiotika gezielt und nicht missbräuchlich eingesetzt werden. Der übermässige Gebrauch von Antibiotika in der Medizin und vor allem in der Landwirtschaft ist ein Haupttreiber der AMR-Krise. Aus diesem Grund testet der britische National Health Service (NHS) seit etwas mehr als zwei Jahren ein Abonnement-basiertes Zahlungsmodell, das auch „Netflix“-Modell genannt wird. Anstatt für die Menge der verkauften Antibiotika zu zahlen, vergütet der NHS Pharmaunternehmen die Entwicklungskosten nach Marktzulassung mit einer Einmalzahlung. Dabei wird der erwartete Nutzen eines neuen Antibiotikums für die Patienten und das Gesundheitssystem als Ganzes vergütet.
Abonnementzahlungen entkoppeln die Gewinne von Pharmaunternehmen von ihren Verkaufszahlen. Sie haben das Potenzial, die Forschung und Entwicklung von Antibiotika anzukurbeln, selbst wenn die Verkäufe neuer Antibiotika gering bleiben sollten, weil solche Medikamente hauptsächlich als Reserve gegen resistente Bakterien verwendet werden.
Ein dynamisches Finanzierungsmodell
In dem von uns entwickelten Anreizsystem schlagen wir ein Finanzierungsmodell vor, das im Gegensatz zu Abonnements nicht auf öffentliche Mittel angewiesen ist. Dabei handelt es sich um ein dynamisches Anreizsystem, das gleichzeitig drei Probleme angeht: (1) Verringerung des übermässigen Antibiotika-Gebrauchs, (2) Stimulierung von Forschung und Entwicklung sowie (3) Unterstützung des gezielten Einsatzes von Antibiotika gegen resistente Bakterien.
Die Basis des Anreizmodells bildet ein Fonds, etabliert durch Länder in einem „Antibiotika-Klub“, wie zum Beispiel der „AMR Action Fund“. Finanziert würde dieser Fonds durch Gebühren, die auf jede ausserhalb der Humanmedizin verwendete Antibiotika-Einheit erhoben werden. In der Sprache der Ökonomie handelt es sich um eine „Pigou-Steuer“. Dieses Geld würde verwendet, um Pharma- und Biotech-Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungs-Ausgaben teilweise zu erstatten, wenn sie ein neues Antibiotikum auf den Markt bringen.
Rückerstattungen bestehen aus einem fixen und einem flexiblen Teil. Der fixe Teil wäre eine allgemeine Prämie für die Markteinführung. Der flexible Teil würde höher ausfallen, wenn ein Antibiotikum gegen durch resistente Bakterien hervorgerufene Bakterien eingesetzt werden kann. Er würde geringer ausfallen, wenn ein neues Antibiotikum eingesetzt wird, aber die Infektion auch mit bereits existierenden Antibiotika behandelt werden könnte.
Neben der Unterstützung der Forschung und Entwicklung von Antibiotika könnte dieses Modell insbesondere dazu dienen, Anreize für sogenannte „Schmalspektrum-Antibiotika“ zu schaffen. Das sind Antibiotika mit relativ kleinen potenziellen Märkten, aber hoher Wirksamkeit gegen bestimmte bisher resistente Bakterienstämme.
Die Regulierungsbehörden müssten die Auszahlungsbeträge und andere Parameter des Erstattungssystems festlegen, um die Forschung und Entwicklung zu stimulieren und gleichzeitig zu vermeiden, dass Pharmaunternehmen übermässige Gewinne erzielen. Die Überwachung der Anwendung bei nicht resistenten Stämmen würde die Speicherung von Verschreibungs- und anonymisierter diagnostischer Testdaten erfordern. Verschiedene AMR-Monitoring Systeme existieren bereits auf nationaler und internationaler Ebene, und könnten entsprechend erweitert werden.
Wir nennen unseren Vorschlag ein „Rückerstattungssystem“. Die Kosten der Antibiotika-Verwendung für die Allgemeinheit, wie die Entwicklung resistenter Bakterien, werden durch Abgaben von den Verursachern getragen. Die Einnahmen werden an die Forschungs- und Entwicklungs-Initiativen zurückgeführt, die darauf abzielen, diese negativen Auswirkungen zu beseitigen. Im Gegensatz zum Abonnementmodell des NHS finanzieren sich Rückerstattungssysteme selbst. Sie bringen Unternehmen auch dazu, ihre Forschung und Entwicklung von Anfang an auf resistente Bakterien zu konzentrieren.
Solche Rückerstattungsansätze werden bereits in der Umweltpolitik eingesetzt, um Unternehmen zu ermutigen, Schadstoffe zu reduzieren. Schweden besteuert Stickoxidemissionen seit 1992 mit einer Erstattung, die so gestaltet ist, dass die saubersten Energieerzeuger einen Nettogewinn erzielen. In der Schweiz gibt es eine Steuer auf Kohlendioxidemissionen, die an eine partielle Rückerstattung gekoppelt ist.
In einigen kritischen Bereichen kann es sinnvoll sein, Forschungs- und Entwicklungsprojekte in Bereiche zu lenken, die langfristig für die Gesellschaft zentral sind. Eine erfolgreiche Anwendung würde deshalb eine breitere Anwendung von solchen Systemen erlauben, um die Forschung und Entwicklung für Behandlungen von anderen Krankheiten zu fördern.
Schlussfolgerungen
Damit die Entwicklung neuer Antibiotika für Unternehmen finanzierbar wird, braucht es ökonomische Anreize und eine enge internationale Zusammenarbeit. Zudem ist es wichtig, das Verursacherprinzip auf die Antibiotika-Krise zu übertragen. Konkret heisst das, dass Antibiotika-Nutzer eine Gebühr entsprechend ihres Verbrauchs zahlen, wenn die Nutzung ausserhalb der Humanmedizin stattfindet. Diese Gebühr wird für Marktanreize eingesetzt und fördert die zielgerichtete Anwendung von Antibiotika. So stehen mehr Mittel zur Erforschung neuer Antibiotika zur Verfügung und es entwickeln sich weniger Resistenzen. Selbstverständlich braucht die Etablierung eines Rückerstattungssystems in einem Antibiotika-Klub mehrerer Länder eine intergouvernementale Organisation, ein geeignetes Regelwerk und Kontrolle, was im heutigen geopolitischen Umfeld nicht einfach zu etablieren ist. Es könnte sich deshalb anbieten, dass der Antibiotika-Klub mit einigen wirtschaftsstarken OECD-Ländern startet. Selbst mit einem solchen Klub stellen sich einige Herausforderungen, die weitere Forschung bedingen.
Neben dem Anreizproblem im F&E-Markt müssen auch andere Probleme auf nationaler und internationaler Ebene angegangen werden: die Verringerung des Missbrauchs und des übermässigen Gebrauchs von Antibiotika, die Entwicklung von Schnelldiagnostik, von Impfstoffen und alternativen Behandlungen und die zunehmende Implementierung von Protokollen zur Infektionsprävention in Einrichtungen wie Spitälern. Diese Massnahmen sind komplementär zu den Anreizschemata für den F&E-Markt. Es ist zu erwarten, dass beide Massnahmenpakete benötigt werden, um die Schattenpandemie erfolgreich zu bekämpfen.
Literaturhinweise
Böttcher, L., Gersbach, H., & Wernli, D. (2022). Restoring the antibiotic R&D market to combat the resistance crisis. Science and Public Policy, 49(1), 127-131.
Böttcher, L., & Gersbach, H. (2022). A refunding scheme to incentivize narrow-spectrum antibiotic development. Bulletin of Mathematical Biology, 84(6), 59.
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