Die Folgen der Personenfreizügigkeit für den Arbeitsmarkt
Hat die Personenfreizügigkeit zu neuen Jobs geführt oder hat sie bloss Jobs von Ansässigen auf Zuwanderer umverteilt? Hat sie die Löhne der Ansässigen erhöht oder gesenkt? Mit diesen Fragen beschäftigte sich ein umfangreiches Forschungsprogramm, an dem drei KOF-Forscher massgeblich beteiligt waren.
Nimmt man die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative als Gradmesser, dann herrscht unter Schweizerinnen und Schweizern Unbehagen über die Folgen der Zuwanderung. Eine mögliche Folge ist eine «Verdrängung» aus dem Arbeitsmarkt. Die Angst davor ist verständlich: Die Abschaffung von Zuwanderungshürden führt zu einer Ausweitung des Reservoirs an Arbeitskräften, das den Firmen zur Verfügung steht. Theoretisch hat diese Ausweitung des Arbeitsangebots das Potenzial, die Löhne oder die Stellenchancen der Ansässigen zu reduzieren. Demgegenüber stehen viele Unternehmer, die sagen, dass ein barrierefreier Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften zentral ist für ihren Erfolg (Eichler et al., 2013).
Es stellt sich die Frage, was nun stimmt. Mit dieser Frage beschäftigte sich ein umfangreiches Forschungsprogramm, an dem drei KOF-Forscher massgeblich beteiligt waren (vgl. Beerli et al. 2018). Die Forscher machen sich die Tatsache zunutze, dass die graduelle Öffnung des schweizerischen Arbeitsmarktes grenznahe Regionen früher und stärker betraf als andere Regionen in der Schweiz. Denn die Personenfreizügigkeit öffnete den Schweizer Arbeitsmarkt nicht nur für europäische Zuwanderer, sondern auch für Grenzgänger. Heute arbeiten 150 000 Grenzgänger mehr in Schweizer Firmen als Anfang 2002 – das entspricht beinahe einer Verdopplung des Bestands. Der Natur der Sache entsprechend fand diese Zunahme fast ausschliesslich in grenznahen Regionen statt.
Die Studie von Beerli et al. (2018) zeigt, dass nicht nur die Beschäftigung von Grenzgängern, sondern auch die Beschäftigung von Ausländern als Ganzes – also Grenzgänger plus Zuzügler – in Grenznähe nach 2002 deutlich stärker wuchs als weiter entfernt von der Grenze. Diese Resultate lassen somit vermuten: Die unmittelbarste Folge der Personenfreizügigkeit – eine Zunahme der Ausländerbeschäftigung in der Schweiz – war in grenznahen Gebieten stärker zu spüren. Um die Effekte der Personenfreizügigkeit zu untersuchen, konzentrieren sich die Forscher daher auf einen Vergleich zwischen grenznahen und grenzfernen Regionen in der Schweiz. Durch diesen Vergleich können andere Trends, welche beide Regionen in ähnlichem Ausmass betreffen, statistisch kontrolliert werden.
Kaum Hinweise auf Lohndruck
Zunächst schauten sich die Forscher an, wie sich die Löhne und Beschäftigung der Ansässigen in grenznahen im Vergleich zu grenzferneren Regionen entwickelten. Sie finden, dass sowohl die Löhne wie auch die Beschäftigung von Schweizer Arbeitskräften in den beiden Regionen praktisch gleich stark wuchsen. Das hohe Lohnniveau in der Schweiz und die Arbeitsmarktchancen der Schweizer kamen in Grenznähe also trotz des deutlich grösseren Anstiegs der Ausländerbeschäftigung nicht stärker unter Druck.
Im Gegenteil: Die Forscher finden Anzeichen, dass die Löhne gut qualifizierter Schweizer in grenznahen Regionen – trotz grösserem Migrationsdruck – sogar stärker wuchsen als in Regionen weiter entfernt von der Grenze (siehe G 10). Dieses Resultat ist umso bemerkenswerter, als eine Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte, die in Grenznähe im Zuge der Personenfreizügigkeit eine Arbeit fanden, ebenfalls gut qualifiziert waren. Es lässt sich damit erklären, dass die Nachfrage und damit die Zahl der Jobs für Gutqualifizierte in Grenznähe ebenfalls besonders stark angestiegen sind (siehe G 11). In der Tat geht ein Drittel des Lohnanstiegs der gut qualifizierten Schweizer in Grenznähe darauf zurück, dass sich deren Chancen erhöhten, einen Job mit Managementaufgaben zu übernehmen.
Um zu verstehen, warum mehr Jobs für Gutqualifizierte geschaffen wurden, wandten sich die Forscher anschliessend den Firmen zu. Sie finden starke Evidenz, dass der einfachere Zugang zu den Arbeitskräften aus dem Ausland das Wachstum von Firmen in Grenznähe positiv beeinflusste. Vor allem in den Jahren von 2002 bis 2007 wuchsen die grenznahen Firmen sowohl hinsichtlich Beschäftigung als auch Umsatz deutlich stärker als grenzferne Firmen. Dieser Wachstumseffekt lässt sich – nicht überraschend – vor allem bei Firmen in Branchen mit einem hohen Bedarf an gut qualifizierten Arbeitskräften nachweisen. Hierzu zählen die Forscher die Hightech-Industrie, wozu unter anderem die Chemie-, Pharma- und Maschinenindustrie gehören, sowie die wissensintensiven Dienstleistungsbranchen wie Versicherungen, Informatik oder das Gesundheitswesen (siehe G 12).
Ausländische Arbeitskräfte sorgten für Wachstum
Insgesamt haben die grenznahen Unternehmen in der Schweiz vom erleichterten Zugang zu Arbeitskräften aus der EU substanziell profitiert. Ohne den Zugriff auf ausländische Arbeitskräfte wären die Unternehmen weniger stark gewachsen und es gäbe weniger von ihnen. Dies spricht dafür, dass die EU-Arbeitskräfte tatsächlich wichtig waren für den Erfolg von Schweizer Unternehmen in der Zeit nach der Einführung der Personenfreizügigkeit. Zudem waren diese Firmeneffekte dafür verantwortlich, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften gleichzeitig mit deren Angebot zunahm: Es wurden Jobs geschaffen, die ohne die Personenfreizügigkeit gar nie in der Schweiz entstanden wären. Deshalb kam es trotz Zuwanderung nicht zu Verdrängungseffekten oder verbreitetem Lohndruck.
Gleichzeitig zeigen diese Forschungsresultate, dass die Unternehmen den substanziellen Zuzug von Ausländern in den Jahren nach der Arbeitsmarktöffnung mitverursacht haben. Diese Resultate legen nahe: Eine Reduktion der Zuwanderung in der Schweiz lässt sich nicht erzielen, ohne das Beschäftigungswachstum der Firmen zu beeinträchtigen und damit die wirtschaftliche Entwicklung zu bremsen – denn Zuwanderung und Beschäftigungswachstum sind die beiden Kehrseiten derselben Medaille.
Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines von Avenir Suisse und Economiesuisse veranstalteten Ökonomen-Hearings verfasst. Eine ausführliche Version des Textes finden Sie hier.
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