Europäische Integration: Hat sie die Wirtschaftssektoren unterschiedlich beeinflusst?

Mehr Wettbewerb, bessere Allokation, höhere Produktivität – dafür sollte die europäische Integration sorgen. Eine neue Analyse zu den längerfristigen Effekten der Integration zeigt, dass diese zwar zu Reformen auf Produktmärkten führte, aber kaum einen Einfluss auf Arbeits- oder Finanzmärkte hatte. Werden Reformen trotzdem ausgelöst, ist dies nicht nur dem Euro zuzuschreiben, sondern auch dem Binnenmarkt.

Europa

Die europäische Integration hat Gewinnerinnen und Gewinner, Verliererinnen und Verlierer hervorgebracht – das ist unumstritten. Unklarheit bestand bislang jedoch darüber, welche Auswirkungen die Integration auf einzelne Wirtschaftssektoren hat. Beispielsweise könnte die Integration dem Finanzsektor überproportional viel Nutzen gebracht, dem verarbeitenden Gewerbe hingegen überproportional viel Schaden zugefügt haben.

Weshalb ist es so schwierig, die wirtschaftlichen Folgen der europäischen Integration zu ermitteln? Denkbar ist, dass die sehr unterschiedlichen Auswirkungen in den Ländern und verschiedenen Wirtschaftssektoren dafür verantwortlich sind. Forschende der KOF und des University College London haben in diesem Zusammenhang zwei Fragen genauer untersucht:

  1. Fördert oder verlangsamt die europäische Integration die politischen Entscheidungen für Strukturreformen auf den Arbeits-, Finanz- und Produktmärkten?
  2. Unterscheiden sich die Wachstumseffekte dieser Strukturreformen zwischen den Sektoren stärker als zwischen den Ländern?

Vor allem Produktmärkte werden dereguliert

Das Schulbuch lehrt, wie wichtig Reformen für das Wachstum sind. Eine stärkere Verflechtung zwischen Staaten sollte sowohl direkte als auch indirekte Auswirkungen auf die Wertschöpfung haben: direkte durch verstärkten Wettbewerb, indirekte durch Strukturreformen. So ist zu erwarten, dass mehr Flexibilität auf den Produktmärkten, bei den Finanzmarktvorschriften und auf den Arbeitsmärkten letztlich die Produktivität erhöht – indem sie Verzerrungen beseitigt, die Allokation verbessert und den Wettbewerb verstärkt.

Die Analyse basiert auf Daten aus 36 Ländern seit den frühen 1970er Jahren – und damit auf mehr Jahren und Ländern als eine Reihe früherer Studien. Das längere Zeitfenster ermöglicht es, neuere Ereignisse wie die globale Finanzkrise und die europäische Staatschuldenkrise in die Analyse miteinzubeziehen. Ausserdem können kurz- und langfristige Auswirkungen abgeschätzt und verglichen werden.

So können die Forschenden zeigen, dass ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine einheitliche Währung vor allem zu Deregulation in Produktmärkten geführt hat, etwa durch tiefere Eintrittsbarrieren oder die Abschaffung von Preiskontrollen. Die Regulierung des Arbeitsmarkts und des Finanzsektors scheinen von der europäischen Integration unbeeinflusst. Weder im Arbeitsgesetz noch bei Kreditmarktkontrollen sind Reformen erkennbar, die auf die europäische Integration zurückzuführen sind.

Euro oder Binnenmarkt – was ist der treibende Faktor?

Laut der wichtigsten bisherigen Studie war der Euro die treibende Kraft für Reformen. Die Forschenden können nun aber anhand von Regressionsanalysen zeigen, dass der Binnenmarkt dafür mindestens genauso wichtig ist. Der Unterschied zwischen ihren und früheren Ergebnissen kommt durch die grössere Stichprobe von Ländern und das erweiterte Zeitfenster zustande.

Frühere Schätzungen sind also eher als kurzfristige Effekte zu interpretieren, jene der vorliegenden Studie als längerfristige. Laut den neuen Resultaten dürfte der Binnenmarkt auf Arbeits- und Produktmärkten die Umsetzung von Reformen sogar stärker gefördert haben als der Euro. Im Finanzbereich lässt sich hingegen weder der Euro noch der Binnenmarkt pauschal als treibender Faktor bestimmen.

Die längere Zeitreihe zeigt zudem, dass sich Reformen langfristig bis zu zehnmal stärker auf die Produktivität auswirken als kurzfristig. Nicht in allen Bereichen führen sie jedoch gleichermassen zu mehr Wachstum: Die Forschenden zeigen, dass Reformen – sofern sie ausgelöst werden – im Finanzbereich stärkere Produktivitätseffekte generieren als auf Arbeits- und Produktmärkten. Gerade in dieser Branche jedoch führt die europäische Integration kaum zu Reformen.

Länderheterogenitäten

Die Wachstumseffekte der Reformentscheidungen können zwischen Sektoren variieren – aber auch zwischen Ländern (siehe G 7). So gibt es nach wie vor keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, wie sich die europäische Wirtschaftsintegration schlussendlich auf die Wertschöpfung auswirkt. Die Studie zeigt jedoch, dass die Länderunterschiede wichtiger sind als die sektorale Heterogenität. Es sind also die heterogenen Länder, die es so schwierig machen, den Effekt von Reformen zu messen – nicht die einzelnen Sektoren.

Einen ausführlichen Text zur Analyse finden Sie auf dem Blog externe SeiteÖkonomenstimme.

Kontakte

Dr. Vera Eichenauer
Dozentin am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften
  • LEE G 120

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • LEE G 305
  • +41 44 632 50 01

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