Wie viel würde ein ungeordneter Brexit die Briten kosten?
Der Countdown läuft: Liegt bis Ende Dezember kein unterzeichnetes Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auf dem Tisch, ist der ungeordnete Brexit Realität – mit einschneidenden Folgen für die Briten. Schätzungen zufolge läge das britische BIP im Jahr 2030 um 2.5% tiefer als bei einem geregelten Austritt und um 5.3% tiefer als ohne Brexit. Die langfristigen Anpassungen wären erst in 15 Jahren vollzogen.
Am 31. Januar 2020 verliess das Vereinigte Königreich die Europäische Union – jedoch mit einer bis Ende dieses Jahres geltenden Übergangsphase, in der die bisherigen Vertragsverhältnisse weiterhin bestehen. Bis zum Ablauf dieser Frist müssen die EU und das Vereinigte Königreich ein neues Freihandelsabkommen abgeschlossen haben, sonst kommt es zu einem ungeordneten Brexit – was erhebliche Einbussen beim Bruttoinlandprodukt (BIP) mit sich bringen würde.
Die bisherigen Verhandlungen gaben wenig Anlass zur Hoffnung. Die beiden Parteien sind sich weiterhin uneins über Fischereirechte, Sozial-, Umwelt- und Subventionsregeln, die Rolle des Europäischen Gerichtshofs sowie den Status von Nordirland. Besonders umstritten ist das Binnenmarktgesetz: Es soll im bereits gültigen Austrittsvertrag Sonderklauseln, die Nordirland enger an den EU-Binnenmarkt und die Zollunion binden sollen, aushebeln – was gegen internationales Recht verstossen würde.
Die EU-Kommission leitete deshalb Anfang Oktober ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Sollte die britische Regierung die strittigen Gesetzespassagen binnen eines Monats nicht ändern, könnte der Streit vor dem Europäischen Gerichtshof enden. Während sich der Konflikt zuspitzt, läuft die Zeit davon. Um das Handelsabkommen rechtzeitig ratifizieren zu können, müsste bis spätestens Mitte November eine Vereinbarung gefunden werden. Ändert jetzt keine Partei ihren Kurs, ist ein ungeordneter Brexit Tatsache.
Der Brexit schwächt auch die Beziehung zu Nicht-EU-Mitgliedern
Ob geregelt oder ungeregelt, durch den Brexit verlässt das Vereinigte Königreich per 1. Januar 2021 EU-Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof und Europol. Es wäre auch kein Mitglied des Europäischen Binnenmarktes und der Zollunion mehr, EU-Standards werden nicht mehr angewendet und das Land leistet keinen Beitrag mehr an das EU-Budget.
Die langfristigen Effekte des Brexits dürften grösstenteils vom Handel kommen. Im Jahr 2019 gingen rund 43% der Exporte des Vereinigten Königreichs in die EU und rund 51% der Importe kamen von der EU, was sie zum wichtigsten Handelspartner macht. Administrative Hürden wie neue Zertifizierungen und Bescheinigungen bei der Zollabfertigung werden die Handelskosten erhöhen. Aber auch Handelsbeziehungen zu Nicht-EU-Mitgliedern dürften vorerst geschwächt sein, da noch nicht alle Abkommen mit Drittländern, die bisher über die EU geregelt waren, repliziert sind. Das Britische Pfund könnte sich weiter abwerten, so dass ausländische Produkte teurer würden.
Mit dem Austritt aus dem Europäischen Binnenmarkt sinkt die Standortattraktivität des Vereinigten Königreichs für multinationale Unternehmen, was mit einer Abnahme ausländischer Direktinvestitionen einhergeht. Die neuen Einwanderungsbestimmungen werden die Anstellung von ausländischen ArbeitnehmerInnen erschweren. Zwar spart das Vereinigte Königreich den jährlichen Beitrag ans EU-Budget – 0.4% seines BIP –, jedoch profitiert es davon nur bedingt. Denn einerseits fallen durch den Austritt aus der EU auch finanzielle Zuschüsse der EU für staatliche Entwicklungs- und Wettbewerbsfähigkeitsprogramme weg und andererseits dürften die Steuereinnahmen aufgrund des tieferen BIP-Wachstums geringer ausfallen.
Ungeordneter Brexit könnte das BIP deutlich senken
Kommt kein Freihandelsabkommen zustande, würden die WTO-Regeln für den Handel mit der EU befolgt. Das Vereinigte Königreich würde dann – Stand jetzt – Zölle und Quoten auf Waren anwenden, die aus der EU ins Land kommen, und die EU ihrerseits Drittlands-Zölle und Quoten auf Waren aus dem Vereinigten Königreich. Gleichzeitig müsste das Vereinigte Königreich mit jedem WTO-Mitglied nach dem «Meistbegünstigungsprinzip» – also unter denselben Bedingungen – handeln. Dies würde die Lebenshaltungskosten im Vereinigten Königreich erhöhen.
Des Weiteren müsste die EU Grenzkontrollen für britische Produkte einführen, was kurzfristig zu massiven Warteschlangen an den Grenzen und zu Lieferverzögerungen von bis zu sechs Monaten führen könnte. Unterschiedliche Regulierungen und Produktstandards würden den Handel mit der EU zusätzlich verkomplizieren und zu Mehrkosten führen, auch wenn einzelne Branchen durch neue, vorteilhafte Gesetze profitieren könnten. Abkommen wie jenes zum Luftverkehr würden nicht mehr angewendet werden. Dies hätte theoretisch zur Folge, dass britische Flugzeuge nicht mehr auf EU-Flughäfen landen dürften, solange kein Folgeabkommen ausgehandelt ist.
Insgesamt dürften die wirtschaftlichen Folgen eines ungeordneten Brexits für das Vereinigte Königreich sowohl kurz- als auch langfristig einschneidend sein. Eine Vielzahl von Studien hat versucht, die Folgen verschiedener Brexit-Szenarien im Vergleich zum Status vor dem EU-Austritt zu schätzen. Generell wird davon ausgegangen, dass die Langzeitanpassungen erst 15 Jahre nach dem Brexit vollzogen sein werden, da die beschriebenen Effekte die Produktivität mindern und so das langfristige Wachstumspotenzial schmälern.
Die meisten Studien sind sich einig, dass der negative Effekt auf das BIP umso grösser sein wird, je höher die Handelsbeschränkungen ausfallen. Im Durchschnitt rechnen die betrachteten Studien1 damit, dass das britische BIP im Jahr 2030 bei einem ungeordneten Brexit 2.5% tiefer liegen wird als bei einem Austritt mit Freihandelsabkommen. Im Vergleich zu einem Szenario ohne Brexit dürfte das BIP 5.3% tiefer liegen. Auch für die EU werden negative wirtschaftliche Effekte erwartet. Diese werden allerdings mehrheitlich als minimal eingeschätzt.
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1) Vgl. für eine Übersicht der Studien: Institute for Government, 2018, «Understanding the economic impact of Brexit»/ House of Commons, 2018, «Brexit deal: Economic analyses», Briefing Paper Number 8451/International Monetary Fund, 2018, «Euro Area Policies», IMF Country Report No. 18/224.
Eine ausführliche Version dieses Beitrags finden Sie in den KOF Analysen von Ende Oktober.
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