Haben sich die Finanzmärkte von der Realwirtschaft entkoppelt?

Lockdown und Homeoffice im Alltag, während an den Börsen immer neue Höchststände erreicht wurden: Das war in weiten Teilen des Jahres während der Corona-Krise Realität. Doch für diesen scheinbaren Widerspruch gibt es wissenschaftliche Erklärungen.

Finanzmärkte

Egal ob Technologie-Aktien, Aktien von klassischen Industriekonzernen, Kryptowährungen, Holz, Weizen oder Kupfer: Die Kurse an den Finanzmärkten sind im Jahr 2021 rasant gestiegen. Viele Aktienindizes wie der SMI, der Dow Jones oder der Deutsche Aktienindex DAX haben zuletzt sogar Allzeithochs erreicht. Auch der Bitcoin ist zwischenzeitlich auf Rekordhöhe gestiegen, hat dann aber wieder nachgegeben (siehe G 2).

SMI, DAX, Dow Jones und Bitcoin: Kursentwicklung seit Jahresanfang

Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Aktivität in fast allen Ländern der Welt durch die Corona-Massnahmen nach wie vor eingeschränkt. Die Tourismusbranche und die Gastronomie lagen in diesem Jahr lange Zeit in vielen Ländern durch Zwangsschliessungen von Hotels und Restaurants brach. Und auch der Detailhandel war 2021 in weiten Teilen Europas grösstenteils geschlossen, so dass viele Konsumenten jenseits vom Online-Handel kaum Möglichkeit hatten, ihr Geld auszugeben. Durch dieses Zwangssparen wendeten sich immer mehr Anleger der Börse zu, entsprechend stiegen und stiegen die Kurse seit dem Corona-Tief im März 2020 immer weiter.

Erleben wir derzeit eine Blase an den Finanzmärkten?

Haben sich also in der Corona-Krise die Finanzmärkte von der Realwirtschaft entkoppelt? Oder anders gefragt: Erleben wir derzeit eine Blase an den Finanzmärkten? Für Heiner Mikosch, Leiter der KOF-Sektion Internationale Konjunktur, ist die Frage nicht eindeutig zu beantworten. «Eine Blase ist nichts, was wir in der Realität sehen können und deren Existenz oder Nicht-Existenz wir in der gleichen Weise untersuchen können, wie die Frage, ob es sich bei dem Objekt dahinten auf der Wiese um ein Pferd oder kein Pferd handelt. Blasen sind geistige Konstrukte.»

Es sei schwierig, den Begriff Blase zu definieren. «Um eine Blase als Abweichung von einem fundamentalen Wert zu definieren, brauche ich ein solides Modell, welches den Fundamentalwert berechnen kann. Dieses Modell hängt wiederum von grundlegenden Annahmen über die Marktakteure ab. Über diese Annahmen gibt es jedoch keine Einigkeit in den Wirtschaftswissenschaften. Deshalb lässt sich ex-post, selbst Jahre oder Jahrzehnte später, nicht glasklar und definitiv sagen, ob wir in einer Episode eine Blase erlebt haben oder nicht», so Mikosch.

Das Konzept «Blase» ist in der Ökonomie umstritten

Es gibt sogar Ökonomen, die eine Theorie der rationalen Märkte vertreten und deshalb der Meinung sind, dass es gar keine Blasen geben kann – dieser Ansicht ist Mikosch allerdings nicht. «Ich persönlich denke, dass es Blasen gibt, oder – etwas philosophischer formuliert – dass es immer wieder Marktphänomene gibt, die wir sinnvollerweise als Blasen bezeichnen», so der studierte Ökonom, Philosoph und Politikwissenschaftler. Man könne zwar sein Modell so an die Realität anpassen, dass es nie eine Blase gegeben hat. Ob das Modell dann aber noch sinnvoll ist, sei eine andere Frage.

Sind die aktuellen Bewertungen an den Finanzmärkten übertrieben?

Die aktuellen Höchststände an den Börsen kann Mikosch – zumindest teilweise – nachvollziehen. «Die Marktteilnehmer glauben offenbar nicht, dass die Corona-Krise substanzielle langfristige Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung hat. Das deckt sich auch weitgehend mit unserer Forschung. Es wird zwar demnach einen Abschlag gegenüber einem (fiktiven) Szenario ohne Corona-Pandemie geben, aber diese Abschläge sind nicht sehr gross», so der KOF-Ökonom. Und Anleger sind grundsätzlich zukunftsorientiert. Der Aktienkurs eines Unternehmens ergebe sich – grob gesprochen – aus den abdiskontierten zukünftigen Gewinnen eines Unternehmens, erklärt Mikosch, der seit 2007 an der KOF im Bereich Makroökonomie forscht.

Allerdings findet Mikosch auch, dass mögliche Risiken derzeit von vielen Marktteilnehmern ausgeblendet werden. So habe es während der Corona-Krise lange Zeit hohe Unsicherheiten über die zukünftige Entwicklung gegeben und trotzdem hätten die Aktienmärkte relativ früh wieder angezogen. «Auch jetzt gibt es nach den Prognosen fast aller Wirtschaftsforschungsinstitute noch deutliche Unsicherheitsfaktoren wie beispielsweise neue Mutationen. Üblicherweise werden solche Unsicherheiten an den Finanzmärkten eingepreist, was mir derzeit weniger stark als üblich der Fall zu sein scheint.»

Wie die Notenbanken die Aktienkurse treiben

Diese Entwicklung hängt wiederum wesentlich mit der Geldpolitik der Notenbanken zusammen. «Die Marktteilnehmer gehen offenbar davon aus, dass die Zentralbanken um jeden Preis einen Abschwung verhindern wollen», so Mikosch. Das sieht auch seine Kollegin Anne Kathrin Funk, die seit 2015 an der KOF im Bereich Geldpolitik forscht, so. «Der starke Kursanstieg an den Börsen in diesem Jahr überrascht mich nicht wirklich, weil es einfach unglaublich viel Liquidität im Markt gibt. Die Zentralbanken haben eine extrem expansive Geldpolitik betrieben und die Zinsen sind schon seit einem sehr langen Zyklus niedrig. Das Geld ist jetzt da und das Kapital muss irgendwo hin. Das sorgt für steigende Kurse an den Börsen», sagt sie.

KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm hält ebenfalls die aktuellen Bewertungen an der Börse für nachvollziehbar. Auch er betont die Rolle der Notenbanken für den generellen Kursanstieg fast aller Branchen. «Die Bewegungen an den Finanzmärkten lassen sich relativ gut erklären. Zum einen haben sich die wirtschaftlichen Aussichten aufgehellt und zum anderen haben die Zentralbanken ihre Schleusen in der Corona-Krise noch weiter geöffnet als vorher, so dass viel Liquidität im Markt ist», so Sturm. Wie die Grafik G 3 zeigt, haben die Notenbanken in Europa, den USA und der Schweiz ihre ohnehin nach der Finanzkrise ausgeweitete Bilanzgrösse während der Corona-Krise nochmal überproportional vergrössert.

Die Entwicklung der Bilanzgrösse der amerikanischen, europäischen und Schweizer Notenbank

Die extrem steigenden Rohstoffpreise hält Sturm allerdings auch für ein teilweise kurzfristiges Phänomen. «In der Produktion ist es beim Weg heraus aus dem Lockdown zu logistischen Problemen und Engpässen gekommen, was die Verfügbarkeit von Rohstoffen eingeschränkt und damit die Preise erhöht hat», so Sturm. Dieser Effekt sei zumindest teilweise temporär, so dass es verfrüht sei, von einem neuen Super-Zyklus bei Rohstoffen zu sprechen. Vielmehr handle es sich – zum Beispiel beim Blick auf den Ölpreis – um eine Normalisierung.

Kryptowährungen mit extremen Schwankungen

Den Hype um den Bitcoin, der zwischenzeitlich bis auf über 60 000 Dollar gestiegen war, hält Sturm für übertrieben. «Der Bitcoin ist für mich ein finanzielles Produkt und noch kein Zahlungsmittel. Ich kann nicht mit dem Bitcoin einkaufen gehen, genauso wenig wie ich mit einer Aktie oder Anleihe einkaufen gehen kann, sondern ich muss zuvor den Bitcoin in eine übliche Währung konvertieren», erklärt Sturm. Ausserdem sieht der Professor für Angewandte Makroökonomie die Instabilität von Kryptowährungen kritisch. Durch die Schwankungen könne niemand im Kopf mit diesen Währungen rechnen, so wie wir es wie selbstverständlich mit Franken und Euros tun.

Wie gefährlich ist die expansive Geldpolitik?

Ganz abwegig sei der Gedanke einer Entkopplung von Finanzmärkten von der Realwirtschaft aber nicht, betont Anne Kathrin Funk. Denn die Finanzmärkte seien mittlerweile immer weniger von realwirtschaftlichen News getrie¬ben, erklärt Funk. «Beispielsweise gibt es selbst bei der Bekanntgabe von schlechten Arbeitsmarktdaten manchmal kaum Ausschläge nach unten an den Börsen.» Die Volkswirtin hält die aktuelle Geldpolitik für «richtig und notwendig», weist aber auch auf die Gefahren hin. «Wenn aber der Ausstieg aus einer expansiven Geldpolitik mit einem Crash an den Börsen einhergeht, der eine Bankenkrise auslöst, so dass die Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte zum Erliegen kommt, kann der Funken auf die Realwirtschaft überspringen und für einen wirtschaftlichen Abschwung sorgen.»

Es müsse allerdings nicht zwingend zu einem Crash kommen, wenn Notenbanken wie die EZB ihre Anleihekaufprogramme zurückfahren. «Technisch ist ein Ausstieg aus einer expansiven Geldpolitik kein Problem. Die Zentralbanken müssen einfach ihre Bilanz verkleinern oder die Zinsen erhöhen. Wie das geht, hat die amerikanische Notenbank Fed vorgemacht», so Funk.

Eine weitere Gefahr neben einem möglichen Börsencrash sieht sie in der weltweit steigenden Staatsverschuldung. «Sehr hohe Staatsschulden können irgendwann auch fiskalisch zu einem Problem werden. Dies hat das Beispiel Griechenland gezeigt», sagt Funk. Es gebe gute Gründe dafür, dass die EU die Staatsverschuldung durch die Maastricht-Kriterien eingeschränkt habe.

Hohe Risikoneigung – Korrekturen zu erwarten

Wie Mikosch ist auch Funk der Meinung, dass derzeit einige Anleger Risiken ausblenden. «Es ist nicht so, dass einfach gedankenlos investiert wird. Aber die Risikoneigung der Investoren ist schon relativ hoch. Gerade im Bereich Private Equity scheint es aus meiner Sicht Übertreibungen zu geben, da die Verschuldungsquoten so hoch wie vor der Finanzkrise sind.»

Auch aus diesem Grund erwartet sie Korrekturen an den Finanzmärkten. Es sei auffällig, dass die Hausse an den Börsen schon über so einen langen Zyklus anhalte. Wann die Korrektur kommt und wie stark sie ausfällt, lasse sich aber nur schwer prognostizieren. «Irgendwann wird es mit dem Bullenmarkt vorbei sein, aber im Moment wollen noch viele Anleger von der Hausse profitieren», so die KOF-Ökonomin.

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Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
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