«Die Corona-Krise hat die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt vergrössert»

KOF-Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler spricht über die Gewinner und Verlierer der Corona-Krise und gibt einen Ausblick auf die Lohn- und Beschäftigungsentwicklung nach dem Abklingen der Krise.

Es gibt ökonomische Theorien, denen zufolge Wirtschaftskrisen Beschleuniger des Strukturwandels sind. Hat die Corona-Krise auch zu einer kreativen Zerstörung geführt?

In manchen Sektoren hat die Krise den Prozess der Digitalisierung beschleunigt. Der Grossteil der Zerstörung, die stattgefunden hat, war allerdings relativ zufällig. Das sieht man bei der Aufschlüsselung der Warenexporte nach Produktkategorien (siehe Grafik G 1). In «normalen» Wirtschaftskrisen werden typischerweise die Unternehmen am stärksten getroffen, die nicht gut aufgestellt sind. In solchen Fällen kann man unter Umständen von einer Marktbereinigung sprechen. Das war jedoch in der Corona-Krise nicht der Fall. Hier ging es vor allem um Glück und Pech. So stieg die Nachfrage nach Oberbekleidung, also zum Beispiel Pullis oder Handschuhen, seit Ausbruch der Krise stark. Letzteres wohl, weil man Oberflächen nicht mehr mit den blossen Händen anrühren wollte. Wenn man hingegen Krawatten exportiert, dann war es sehr schwierig, einfach weil Krawatten im Homeoffice nicht getragen werden. Diese Krise hat besonders wenig kreative Zerstörung mit sich gebracht, sondern vor allem destruktives Zerstörungspotenzial.

G 1

Andererseits zeigen Auswertungen der KOF, dass in der Krise die Konkurse zunächst sogar zurückgegangen sind.

Ja. Dank der schnellen und massiven politischen Interventionen hat sich die destruktive Zerstörung in Grenzen gehalten. Zum Glück sind dank der Kurzarbeit und dank Unternehmenskrediten nur wenige gesunde Wirtschaftsstrukturen zerstört worden.

Die Gewinner und Verlierer der Corona-Krise lassen sich relativ gut abgrenzen. Alles, was mit Soft- und Hardware zu tun hat, wie zum Beispiel Online-Lieferdienste, hat zugelegt, während vor allem kontaktintensive Dienstleistungen verloren haben. Stimmt diese Kategorisierung auch, wenn man tiefer ins Detail geht?

Grundsätzlich ja. Aber selbst innerhalb der Branchen gibt es Unterschiede. Ein Online-Händler von Business-Anzügen und Krawatten hat zum Beispiel während der Krise kein gutes Geschäft gemacht. Ein Online-Händler von Möbeln dagegen schon.

Sie haben am Anfang von Glück und Pech gesprochen. Hat die Schweiz Glück gehabt, dass sie mit ihrer Wirtschaftsstruktur nicht so stark von der Krise getroffen wurde wie andere Länder in Europa?

Der Tourismus trägt in der Schweiz deutlich weniger zur Wertschöpfung bei als zum Beispiel in Österreich oder südeuropäischen Ländern wie Italien, Spanien oder Griechenland. Gleichzeitig hat die Schweiz beispielsweise einen sehr starken Pharmasektor. Dieser Sektor ist generell nicht sehr konjunktursensitiv, was immer in Wirtschaftskrisen hilft. Hinzu kommt, dass die Schweizer Pharmaindustrie an der Produktion von Impfstoffen beteiligt ist und deshalb sogar in der Krise weiter wachsen konnte. Insofern hat die Schweiz auch wegen ihrer Wirtschaftsstruktur weniger stark gelitten als andere Volkswirtschaften.

Sind die wirtschaftlichen Gewinner- und Verliererbranchen automatisch auch aus Beschäftigungssicht Gewinner und Verlierer?

Im Grossen und Ganzen ja. Betriebe, die Gewinner waren, haben auch Beschäftigung aufgebaut. Krisenverlierer haben Beschäftigung abgebaut (siehe Grafik G 2). Es gibt allerdings Ausnahmen. In der Pharmaindustrie ist beispielsweise die Beschäftigung nicht so stark gestiegen wie die Wertschöpfung. Der Pharma-Boom ist vor allem in die Wertschöpfung und nicht so sehr in die Beschäftigung geflossen.

G 2

Werden dann also die Löhne in der Pharmabranche steigen?

Davon ist auszugehen. Die Branchen, in denen es gut lief, werden die Löhne erhöhen, auch weil die Konkurrenz um Arbeitskräfte im Aufschwung stark angestiegen ist.

Wie sehen Sie die allgemeine Lohnentwicklung in den nächsten Jahren?

Unsere Prognosen bezüglich des Reallohnwachstums sehen recht düster aus. In Krisen gibt es in der Schweiz ein typisches Muster: Normalerweise steigen am Anfang einer Krise die Löhne auf Kosten der Unternehmensgewinne. Das heisst, wer seinen Job behält, spürt die Krise wirtschaftlich gar nicht so stark und gewinnt typischerweise wegen stagnierenden oder sinkenden Konsumentenpreisen sogar an Kaufkraft. Im Aufschwung nach der Krise steigen die Löhne dagegen weniger stark als die Wertschöpfung. Das ist auch in der derzeitigen Erholungsphase so. Der Grossteil des Lohnwachstums wird aktuell von der für Schweizer Verhältnisse hohen Inflation aufgefressen. Deshalb gehen wir für 2022 nicht von steigenden Reallöhnen aus.

Welche Verteilungswirkung hatte die Corona-Krise auf dem Arbeitsmarkt?

Die Corona-Krise hat die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt vergrössert. Vor allem Niedriglohnbranchen wie die Gastronomie haben gelitten, während gut bezahlte und gut qualifizierte Arbeitskräfte nur selten ihren Job verloren, sondern während der Corona-Krise einfach vom Homeoffice aus weiterarbeiten konnten. Bei den überdurchschnittlich gut bezahlten intellektuellen und wissenschaftlichen Berufen gab es 2020 zum Beispiel keinen Beschäftigungsabbau (siehe Grafik G 3). Bei Führungskräften, die vielleicht als Krisenmanager gefragt waren, ist die Beschäftigung sogar um fast 4% gestiegen.

G 3

In den USA spricht man von einer «Shecession», weil Frauen dort stärker von der Krise betroffen wurden als Männer. Ist das in der Schweiz auch so?

Nein. Männer und Frauen sind in der Schweiz – zumindest, was den Arbeitsmarkt direkt betrifft – in fast allen Dimensionen gleich stark betroffen. Was anders ist: Bei früheren Krisen waren in erster Linie Männer betroffen, da sie oft in konjunktursensitiven Branchen wie der Baubranche oder der Industrie arbeiten. Anders als zum Beispiel in der Finanzkrise waren in der Corona-Krise nicht primär diese Branchen von der Krise getroffen, sondern auch kontaktnahe Dienstleistungsbranchen, in denen Frauen typischerweise übervertreten sind. Wenn man eine Gruppe hervorheben will, die in der Krise auf dem Schweizer Arbeitsmarkt stark gelitten hat, sind dies die ausländischen Arbeitnehmer.

Warum?

Das liegt grösstenteils an der Branchenverteilung und der Beschäftigungssituation der Ausländer. Viele Ausländer arbeiten in prekären Verhältnissen mit befristeten Arbeitsverträgen und das oft in Niedriglohnbranchen wie der Gastronomie.

Die Schweiz ist traditionell ein Einwanderungsland. Wie hat sich die Einwanderung in den Arbeitsmarkt verändert?

Während des ersten Lockdowns 2020 kam es zu deutlich weniger Einwanderungen oder Neuverträgen für Grenzgänger. Insgesamt ist während der Corona-Krise die Dynamik sowohl bei der Einwanderung als auch bei der Auswanderung zurückgegangen. Der Wanderungssaldo – also Ein- minus Abwanderung – blieb recht konstant.

In der Schweiz und noch stärker in anderen Ländern Europas ist viel Schulunterricht ausgefallen und die Qualität des Online-Unterrichts konnte nicht immer mit dem regulären Schulbetrieb mithalten. Wirkt sich das langfristig auch auf den Arbeitsmarkt aus oder gleicht sich diese Bildungslücke im Laufe des Berufslebens aus?

Die Studienlage ist relativ eindeutig: Investitionen in Bildung rentieren sich, fehlendes Wissen kostet dagegen langfristig Einkommen. Für die betroffenen Kohorten kann diese Bildungslücke zu einem lebenslangen Nachteil auf dem Arbeitsmarkt führen. Weil Schulschliessungen die Steuereinnahmen weit über die Krisenjahre hinaus verringern werden, waren sie wohl mit Abstand die kostspieligste Massnahme bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Zudem vergrössern Schulschliessungen die Ungleichheit, denn beim Homeschooling sind Kinder von gut gebildeten Eltern klar im Vorteil gegenüber Kindern mit weniger gut gebildeten Eltern.

Wann wird der Arbeitsmarkt nach dem Abklingen der Corona-Krise wieder ins Gleichgewicht kommen?

Der strukturelle Wandel auf dem Arbeitsmarkt beispielsweise durch die Verbreitung des Homeoffice wird noch eine Weile dauern. Wenn die Pandemie uns nicht noch durch weitere gefährliche Virus-Mutationen ein Schnippchen schlägt, werden wir aber beschäftigungsmässig in etwa ein bis zwei Jahren wieder so etwas wie Normalität erleben. Die gute Nachricht ist, dass die langfristigen Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt nicht so gross sein werden wie anfangs befürchtet. Ein Grossteil der Beschäftigungsverluste wird sich in der Erholungsphase wieder aufholen lassen.

Eine Aufzeichnung des KOF Wirtschaftsforums vom Dezember zum Thema: «GewinnerInnen und VerliererInnen der Coronapandemie» finden Sie hier.

Kontakte

Dr. Michael Siegenthaler
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 301
  • +41 44 633 93 67

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Ähnliche Themen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert