Welthandel

«Wir erwarten eine Rezession in Deutschland, Frankreich und Italien – aber nicht in der Schweiz»

Fast alle wichtigen Handelspartner der Schweiz haben derzeit mit den wirtschaftlichen Folgen des Russland-Ukraine-Krieges oder mit hausgemachten Problemen zu kämpfen. Heiner Mikosch und Philipp Kronenberg von der Sektion Internationale Konjunktur analysieren im Interview die aktuelle Lage der Weltwirtschaft.

Deutschland, der wichtigste Handelspartner der Schweiz, erlebt gerade einen wirtschaftlichen Abschwung und zweistellige Inflationsraten. Wie schätzt die KOF die konjunkturelle Lage in Deutschland ein?
Kronenberg: Deutschland leidet enorm unter der aktuellen Energiekrise, weil sein Energiemix und sein Wirtschaftsmodell so stark auf fossile Energieträger fokussiert sind. Über 60% der Energieerzeugung in Deutschland stammen aus Erdgas und Erdöl. In Frankreich und der Schweiz ist dieser Wert mit 44 beziehungsweise 47% deutlich geringer. Zudem hat Deutschland viele energieintensive Industriesektoren beispielsweise im Bereich Stahl, Chemie oder in der Automobilproduktion und im Maschinenbau. Unter dem Strich erwarten wir in Deutschland eine Rezession und auch im Jahr 2023 weiter hohe Inflationsraten. Dies wird sich auch auf die Schweizer Konjunktur negativ auswirken.

Wie genau ist der Übertragungsmechanismus dieser Negativdynamik?
Kronenberg:
Es gibt zwei Kanäle. Zum einen dämpft die hohe Inflation und die schlechte Konsumstimmung in Deutschland die Nachfrage der Endverbraucher nach Schweizer Konsumgütern. Zum anderen sorgen die steigenden Produzentenpreise für eine sinkende Produktion in Deutschland, so dass die deutschen Unternehmen auch weniger Vorprodukte in der Schweiz nachfragen.

Bremst auch der starke Schweizer Franken den Export?
Kronenberg:
Ja, aber nicht so stark, wie man meinen könnte. Denn da die Inflation in Deutschland und vielen anderen Ländern deutlich höher ist als in der Schweiz, fällt die Aufwertung des Schweizer Frankens nicht so stark ins Gewicht. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) vertritt die Ansicht, dass der Franken derzeit nicht mehr überbewertet ist. Das halten wir auch bei der KOF für plausibel.

Die Inflation in Frankreich ist mit rund 7% fast 4% niedriger als in Deutschland. Woran liegt das?
Mikosch:
Frankreich hat im letzten Herbst einen Strom- und Gaspreisdeckel eingeführt. Das ist der Hauptgrund für die niedrigere Inflation in Frankreich. Die Kerninflationsrate, bei der die Energiepreise rausgerechnet werden, ist etwa auf demselben Niveau wie in Deutschland.

Ist Frankreich beim Wachstum besser aufgestellt als Deutschland?
Mikosch:
Auch für Frankreich erwarten wir eine Rezession, wenn auch etwas weniger stark als in Deutschland. Frankreich ist nicht ganz so stark in den internationalen Industriezyklus eingebunden wie Deutschland, so dass die Rezession etwas milder als in Deutschland ausfallen dürfte.

Wie stark wird es sich auf die europäische Wirtschaft auswirken, wenn der deutsch-französische Wirtschaftsmotor stottert?
Kronenberg:
Deutschland und Frankreich sind tatsächlich die treibenden Wirtschaftskräfte in Europa. Da Europa wirtschaftlich sehr vernetzt ist, wird sich der Abschwung in Deutschland und Frankreich auf ganz Europa auswirken. Die Vernetzung zeigt sich besonders in der Industrie, wo viele Länder an der Herstellung eines Produkts beteiligt sind. So musste zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine ihre Produktion zeitweise stoppen, weil wichtige Vorprodukte wie z. B. Kabelbäume nicht mehr aus der Ukraine geliefert werden konnten.

«Deutschland leidet enorm unter der aktuellen Energiekrise, weil sein Energiemix und sein Wirtschaftsmodell so stark auf fossile Energieträger fokussiert sind.»
Philipp Kronenberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion Internationale Konjunktur

Grossbritannien ist ja seit 2020 nicht mehr Mitglied der Europäischen Union und war nie Mitglied des Euroraums. Kann sich das Land von der negativen Konjunkturdynamik in der EU und im Euroraum abkoppeln?
Kronenberg:
Nein, Grossbritannien hat eher noch grössere Probleme als die meisten EU-Länder. Ein Teil davon ist hausgemacht. Die ehemalige Premierministerin Liz Truss hat mit ihren radikalen Steuerreformen die Finanzmärkte verunsichert und das britische Pfund abstürzen lassen. Zusätzlich leidet Grossbritannien unter den Folgen des Brexits, was die Inflation zusätzlich anheizt. So verteuern zusätzliche Handelshemmnisse seit dem Brexit importierte Güter aus der EU. Zusätzlich verstärkt die Kündigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit den Arbeitskräftemangel, was wiederum in höhere Lohnforderungen resultiert. Auch der internationale Austausch mit der EU, insbesondere der Handel, ist seitdem stark eingebrochen und viele internationale Unternehmen zogen sich aus dem Vereinigten Königreich zurück und reduzierten ihre Investitionen. Darunter leidet schliesslich auch die Produktivität, was die heimische Produktion teurer macht und längerfristig das Wachstumspotenzial schmälert. Wir erwarten, dass Grossbritannien in die Rezession geht und über längere Zeit erhöhte Inflationsraten erleben wird. Die Bank of England erwartet für Grossbritannien gar für die nächsten zwei Jahre ein negatives Wirtschaftswachstum.

Die Wirtschaftszeitschrift «The Economist» hat zuletzt Grossbritannien mit Italien verglichen und dafür die Wortschöpfung «Britaly» erfunden. Ist England das neue Italien?
Kronenberg:
Politisch war Grossbritannien zuletzt ungewohnt instabil. Die schnellen Regierungswechsel mit drei Premierministern in wenigen Monaten haben tatsächlich an Italien erinnert. Es bleibt zu hoffen, dass unter dem neuen Premierminister Rishi Sunak wieder etwas mehr Ruhe einkehrt.

Italien hat seit Oktober eine rechtsgerichtete Regierung. Ist das eine Gefahr für Europa und den Euro?
Mikosch:
Die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat zwar einige Querschläger in ihrer Koalition. Sie selbst hat sich zuletzt aber – auch um mehrheitsfähig zu werden – sehr moderat präsentiert. Von einem Austritt aus dem Euro, wie er vor Jahren in Italien diskutiert wurde, ist zum Beispiel keine Rede mehr. Der Koalitionspartner «Forza Italia» ist – anders als der zweite Koalitionspartner Lega – tendenziell eine pro-europäische Partei. Ich glaube, dass die Koalition die Konfliktthemen eher im Bereich Migration und Identitätspolitik suchen wird, weniger in der Europa- und Wirtschaftspolitik. Von daher geht nach unserer Einschätzung von Italien keine explosive Gefahr für den Euroraum aus.

Und wie ist der wirtschaftliche Ausblick der KOF für Italien?
Mikosch:
Wir erwarten auch in Italien eine Rezession und hohe Inflationsraten. Deutschland und Italien schwingen konjunkturell sehr ähnlich, weil vor allem der industrielastige Norden des Landes eng in die internationalen Wertschöpfungsketten integriert ist.

Blicken wir auf die wichtigsten Wirtschaftsräume ausserhalb von Europa. Ist das Corona-bedingte Lieferkettenproblem in China mittlerweile gelöst?
Mikosch:
In China wird nach wie vor die Zero-Covid-Politik praktiziert. Aber irgendwie haben sie es trotzdem geschafft, die Wirtschaft nicht ganz abzuwürgen – teilweise durch Massnahmen, die man in Europa nie tolerieren würde, zum Beispiel dass Arbeiter und Arbeiterinnen wochenlang in ihren Firmen campieren mussten. Das Lieferkettenproblem schwächt sich langsam ab. Das eigentliche Problem Chinas ist, dass die chinesischen Impfstoffe nicht wirken und die Chinesen keine westlichen Impfstoffe von Pfizer oder Moderna grossflächig einsetzen möchten. Eine Abkehr von diesem nationalen Kurs wäre ein echter Gamechanger. Doch China ist immer mehr auf Präsident Xi Jinping zentriert, der viele Entscheidungen eigenmächtig oder in einem kleinen Kreis trifft. Anders als früher gibt es kaum noch Checks and Balances einer grösseren Gruppe von Entscheidern. Das birgt viele politische Risiken.

Politische Analysten warnen vor einer Eskalation des Taiwan-Konflikts. Welche Konsequenzen hätte das für die Weltwirtschaft?
Mikosch:
Die Auswirkungen einer militärischen Eskalation des Taiwan-Konflikts sind schwer einzuschätzen. Die für die Weltwirtschaft so wichtige Chip-Produktion in Taiwan könnte man wohl selbst im Worst-Case-Szenario mittelfristig in andere Teile der Welt verlegen. Aber was nach einer Besetzung Taiwans geopolitisch passieren würde und wie die USA reagieren würden, ist völlig offen.

«Das eigentliche Problem Chinas ist, dass die chinesischen Impfstoffe nicht wirken und die Chinesen keine westlichen Impfstoffe von Pfizer oder Moderna grossflächig einsetzen möchten.»
Heiner Mikosch, Leiter der Sektion Internationale Konjunktur

Ist die US-Wirtschaft, die Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft, mittlerweile überhitzt?
Kronenberg:
Die USA hat in der Corona-Krise mit grossen fiskalischen Ausgabenpaketen – die amerikanischen Medien sprechen von «Bidenomics» – die Nachfrage angekurbelt. In der Folge musste die US-Notenbank (Fed) mit Zinserhöhungen gegen eine Überhitzung ankämpfen, auch wenn sie damit eine Rezession in Kauf nimmt.
Mikosch: Wir rechnen auch in den USA mit einer Rezession, aber es gibt auch positive Signale. Der US-Arbeitsmarkt ist immer noch robust und die Unternehmensgewinne sind hoch. Zudem ist die US-Wirtschaft generell dynamischer als die europäische. Wenn sie in eine Rezession taucht, erholt sie sich erfahrungsgemäss sehr schnell.

Wie kann sich die Schweiz vor der Inflation und Rezession im Ausland schützen?
Mikosch:
Eine ganz wichtige Stellschraube ist das Management des Wechselkurses durch die SNB. Man muss sich die Inflationsdifferenzen zum Ausland anschauen und genau überlegen, wie viel Aufwertung des Frankens man zulassen kann. So kann man sich vor einer importierten Inflation schützen. Andererseits darf man natürlich nicht überschiessen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Exportsektors durch eine zu hohe Aufwertung nicht zu gefährden. Gelingt dieser Balanceakt, ist das die halbe Miete, um eine längere Krise zu vermeiden. Unter dem Strich gehen wir an der KOF derzeit davon aus, dass die Schweiz trotz der gestiegenen Energiepreise einer Rezession entgehen kann.

Deutschland versucht mit sozialpolitischen Massnahmen wie mit vergünstigten Verkehrstickets, einer Energiepauschale für alle Bürger und Bürgerinnen und einer Gaspreisbremse, die Folgen der Inflation abzufedern. Braucht auch die Schweiz ein Entlastungspaket für die Konsumenten und Konsumentinnen?
Kronenberg:
In der Schweiz ist die Notwendigkeit, Gegensteuer zu geben, weniger gross als in der EU. Aber letztlich bleibt das eine politische Frage.

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