Wie abhängig ist die Schweizer Industrie von China?

Ein Fünftel der Schweizer Industrieunternehmen ist mittel bis stark von kritischen Vorleistungen aus China abhängig. Am grössten ist die Abhängigkeit in der Elektronikbranche, gefolgt von der Pharma- und Chemiebranche. Ein knappes Fünftel der Unternehmen kann die eigene Abhängigkeit nicht einschätzen. Bei den ergriffenen oder geplanten Massnahmen zeigt sich eine Neuausrichtung von Produktion und Beschaffung auf Europa und die Schweiz. Das geht aus einer Unternehmens­befragung der KOF hervor.

In den letzten Jahren hat die chinesische Null-Covid-Politik die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der globalen Lieferketten auf eine harte Probe gestellt. Zudem haben die Spannungen zwischen China und den USA die geopolitische Unsicherheit erhöht. Beides hat dazu geführt, dass die Wirtschaftsbeziehungen mit China in vielen westlichen Ländern auf den Prüfstand gestellt werden.

Dabei geht es nicht um eine vollständige Abkopplung von China («decoupling»), sondern um den Abbau kritischer Abhängigkeiten («de-risking»), die zu Produktionsausfällen oder massiven Kostensteigerungen für Unternehmen führen und im schlimmsten Fall sogar die Sicherheit und Stabilität des eigenen Landes gefährden könnten. Die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas hat gezeigt, wie kritisch wirtschaftliche Verflechtungen im Konfliktfall sein können.

Um die Abhängigkeit der Schweizer Unternehmen von China zu erfassen, befragte die KOF zwischen dem 1. März und dem 3. April die Schweizer Industrieunternehmen zu ihrer direkten Abhängigkeit von China – einerseits aufgrund des direkten Bezugs kritischer Produkte aus China, andererseits aufgrund der indirekten Abhängigkeit über ihre Liefernetzwerke. Als kritisch werden Vorleistungen definiert, die für die Produktion notwendig sind und nicht innert nützlicher Frist und zu vertretbaren Kosten ersetzt oder anderweitig beschafft werden können. Zusätzlich wollte die KOF wissen: Welche Massnahmen haben die Unternehmen in den letzten zwei Jahren ergriffen oder geplant, um diese Abhängigkeiten zu reduzieren?

Moderate Abhängigkeit von kritischen Vorleistungen aus China mit sektoralen Unterschieden

Die Auswertung der 486 Antworten zeigt, dass die Abhängigkeit der Schweizer Industrie von kritischen Vorleistungen aus China insgesamt moderat ist. Allerdings sind 7% der befragten Unternehmen stark oder sehr stark von chinesischen Vorleistungen abhängig und mehr als ein Achtel gibt eine mittlere Abhängigkeit an (siehe Grafik G 1). Bemerkenswert ist das Ergebnis, dass 18% der Unternehmen den Grad ihrer Abhängigkeit von chinesischen Vorleistungen nicht einschätzen können.

Besonders hoch ist der Anteil kritischer Vorleistungen aus China in der Elektroindustrie (siehe Grafik G 2). Mehr als die Hälfte der Unternehmen in der Pharma- und Chemiebranche schätzt ihre Abhängigkeit als mittel oder höher ein, im Maschinenbau und Verkehr ist es ein Viertel der Unternehmen. Jeweils rund ein Fünftel der Unternehmen in den Sektoren Maschinenbau und Transport sowie der Unternehmen in anderen Sektoren können ihre direkte Abhängigkeit von China nicht einschätzen.

Die indirekte Abhängigkeit von China über das Liefernetzwerk des Unternehmens ist etwas höher als die direkte Abhängigkeit von chinesischen Vorleistungen (siehe Grafik G 3). Mehr als jedes siebte Unternehmen bezieht Vorleistungen aus Liefernetzwerken mit einer hohen oder sehr hohen Abhängigkeit von China. Während insgesamt mehr als ein Drittel der Unternehmen von einer zumindest mittleren Abhängigkeit in den Lieferketten berichten, gibt weniger als ein Drittel der Unternehmen an, keine kritischen Vorleistungen aus China in der Lieferkette zu verwenden. Jedes siebte Unternehmen kann die Abhängigkeit von China in der Lieferkette nicht einschätzen.

Mehr als jedes zehnte Unternehmen, das Gebrauchs- oder Investitionsgüter herstellt, gibt eine hohe Abhängigkeit von China in der Lieferkette an und für mehr als ein weiteres Viertel dieser Unternehmen ist die Abhängigkeit mittel (siehe Grafik G 4). Bei Konsum- und Vorleistungsgütern scheint die Abhängigkeit generell geringer zu sein, allerdings sind sich diese Unternehmen ihrer Abhängigkeiten weniger bewusst.

Eine Vielzahl von Massnahmen zur Verringerung der kritischen Abhängigkeit von China

Wie gehen die Unternehmen mit diesen Abhängigkeiten um? Insgesamt hat über die Hälfte der Unternehmen keine Massnahme getroffen und ein knappes Drittel der Unternehmen hat bis zu drei Massnahmen ergriffen oder geplant (siehe Grafik G 5). Jedes zehnte Unternehmen hat vier oder mehr Massnahmen ergriffen oder geplant. Die folgende Grafik zeigt für die 91 Unternehmen mit Massnahmen die Art der von den Unternehmen ergriffenen oder geplanten Massnahmen nach ihrer Häufigkeit (siehe Grafik G 6). Vier von fünf Unternehmen planen, mehr Vorleistungen aus Europa zu beziehen, oder tun dies bereits, während knapp 40% der Unternehmen mehr in Europa produzieren (wollen). Fast ebenso viele Unternehmen passen ihre Produktionsprozesse an.

Mehr als jedes vierte Unternehmen bezieht oder produziert mehr Vorleistungen aus der Schweiz oder aus Asien ohne China (oder plant dies). Andere Massnahmen wie der Bezug von Vorleistungen aus anderen Weltregionen, Lagerhaltung oder die externe oder eigene Produktion in China sind deutlich weniger populär. Wenig betroffene und mittel bis stark betroffene Unternehmen wählen bzw. planen ähnliche Massnahmen, wobei der Anteil der Unternehmen ohne Massnahmen mit steigender China-Abhängigkeit auf 30% sinkt (siehe Grafik G 7). Die beliebteste Strategie über alle Betroffenheitsgruppen hinweg ist es, keine Massnahmen zu ergreifen, gefolgt von geografischen Anpassungen bei der Beschaffung und Produktion von Vorleistungen.  

Bemerkenswert ist, dass auch Unternehmen ohne genaue Kenntnis ihrer Abhängigkeit Massnahmen ergreifen. Die Wahl der Massnahmen scheint kaum mit der Unternehmensgrösse zusammenzuhängen (siehe Grafik G 8). Fast 60% der grösseren Unternehmen ändern die Herkunft der Vorleistungen oder planen, diese zu verändern, während kleinere Unternehmen eher die Produktion anpassen oder andere Massnahmen wählen, wie beispielsweise eine erhöhte Lagerhaltung. Über 40% der kleinen und mittleren Unternehmen ergreifen hingegen keine Massnahmen. Die Massnahmen der Sektoren sind vergleichbar: ausser für die Elektronikbranche ist es am populärsten keine Massnahmen zu ergreifen (30-40%), gefolgt von Veränderungen im Vorleistungseinkauf, der für die Elektronikbranche mit deutlich über einem Drittel am ausgeprägtesten ist (siehe Grafik G 9).

Die internationale Diskussion um kritische Abhängigkeiten

Diese Ergebnisse sind vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion zur Abhängigkeit von China in kritischen Bereichen zu sehen, die derzeit in Europa und insbesondere in Deutschland stattfindet. So hat eine zum Jahresanfang veröffentlichte externe SeiteStudie des IfW Kiel Institut für Weltwirtschaft gezeigt, dass die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Importen aus China (und Taiwan) geringer ist, als die Handelsstatistiken vermuten lassen. China dominiert jedoch bei einzelnen Rohstoffen und Produkten, insbesondere im Elektronikbereich, und der Weltmarkt sowie die deutsche Versorgung könnten China als Lieferanten kurzfristig nicht ersetzen.

Vor dem Hintergrund der Rohstoffabhängigkeit hat die Europäische Union im März eine externe SeiteStrategie zur raschen Diversifizierung der Herkunftsländer von (veredelten) Rohstoffen verabschiedet. Es wird erwartet, dass sich die Nachfrage nach vielen Mineralien und Metallen mit der Energiewende und zunehmender Digitalisierung vervielfachen wird. Die Schweizer Unternehmen sollten daher kritische Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten und möglicherweise unzuverlässigen Herkunftsländern im Auge behalten, um gegebenenfalls – wie in der Vergangenheit immer wieder erfolgreich geschehen – geeignete und verhältnismässige Massnahmen zu ergreifen, die das Risiko von geschäftsgefährdenden Abhängigkeiten senken.

China und die Weltpolitik: Drei Erkenntnisse

Bei der virtuellen Veranstaltung «KOF Beyond the Borders» am 26. Mai diskutierten Markus Herrmann, Mitgründer und Geschäftsführer der China Macro Group, Lars Brozus, stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, sowie KOF-Ökonomin Vera Eichenauer über das Thema «Machtverschiebungen im Weltsystem: Welche Rolle spielt Europa?». Moderiert wurde die Veranstaltung von KOF-Mitarbeiterin Sina Freiermuth. Wir haben die drei wichtigsten Erkenntnisse der Diskussion zusammengefasst:

Vom Multilateralismus zu multiplen Krisen – geschichtliche Entwicklung:
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges herrschte in den 90er-Jahren laut der Analyse von Lars Brozus auf der weltpolitischen Bühne eine «Entspannungsphase». Selbst Russland und China hätten sich in dieser Zeit, als es zum Beispiel um Umweltthemen oder Frauenrechte ging, kooperativ gezeigt. Der Multilateralismus, also die Zusammenarbeit mehrerer Staaten bei der Lösung von politischen, gesellschaftlichen oder technischen Problemen, funktionierte relativ gut. Beispielhaft können dafür die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 und die UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 genannt werden. 2001 trat China sogar der Welthandelsorganisation (WTO) bei.

Wie Lars Brozus in seinem Referat weiter ausführte, gelangte ab dem Jahrtausendwechsel aber immer mehr Sand ins Getriebe der Weltpolitik. Vor allem die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 und die Finanzkrise ab 2007 brachten die Weltpolitik und die Weltwirtschaft in ein Ungleichgewicht. Auch der Arabische Frühling, die sogenannten Farbrevolutionen in Georgien oder der Ukraine und die russische Annexion der Krim 2014 veränderten die geopolitische Situation. Der Austritt Grossbritanniens aus der EU im Jahr 2020 («Brexit») und die «America first»-Politik des damaligen (2017–2021) US-Präsidenten Donald Trump forderten den Multilateralismus nicht nur praktisch, sondern auch konzeptionell heraus.

Spätestens seit Beginn der Corona-Krise 2020 befinden wir uns im Zeitalter der multiplen Krisen, so Brozus. Dieses habe drei Ausprägungen: die Ablösung von multilateralen durch multipolare Ordnungsvorstellungen, wie die systemische Rivalität zwischen den USA und China sowie der Ukraine-Krieg verdeutlichen, eine Konnektivitätskrise, die die Schwachstellen der globalen Arbeitsteilung aufdecke, wofür beispielhaft pandemiebedingte Lieferkettenprobleme stünden und schliesslich globale Transformationsherausforderungen, die durch die notwendige Bewältigung von Klimawandel und nachhaltiger Entwicklung gekennzeichnet seien, die die soziale Kohäsion in vielen Staaten unter Stress setze.

Der Taiwan-Konflikt – sieben Szenarien:
Der Rivalität zwischen China und Taiwan stellt derzeit neben dem Ukraine-Krieg eines der wichtigsten geopolitischen Risiken dar. Markus Herrmann stellte in seiner Präsentation sieben Szenarien vor, wie sich der Konflikt entwickeln könnte. Zunächst wurde über das Szenario einer kurzfristig initiierten Invasion spekuliert, ausgelöst durch politische Fraktionsreibungen innerhalb der Parteispitze vor dem 20. Parteikongress vom Oktober 2022 – dies hat sich allerdings nicht materialisiert (Szenario 1). Weitere Szenarien umfassen eine Invasion ab 2027, sobald China das formale Modernisierungsziel seiner Streitkräfte gemäss dem 14. Fünfjahresplan (2021–2025) erreicht hat (Szenario 2) oder eine nicht-militärische Verhandlungslösung in den 2030er-Jahren, bei der China vor allem sein wirtschaftliches und politisches Gewicht ausspielen könnte (Szenario 3).

Des Weiteren könnten Ereignisse ausserhalb von China eine neue Dynamik in den Konflikt bringen, beispielsweise ein Regierungswechsel in den USA 2024 oder 2028 (Szenario 4) oder eine Stärkung der Unabhängigkeitsbewegung bei den Wahlen in Taiwan in denselben Jahren (Szenario 5). Aber es gebe auch Szenarien, in denen der Status Quo perpetuiert wird, nämlich dann, wenn sich in der gegenseitigen Abschreckung auf längere Sicht hin ein Gleichgewicht einstellt (Szenario 6) oder wenn es dank einer weniger aggressiven und gegenüber dem Nachbarn freundlicheren Neuausrichtung der Politik in Peking und Taipeh zu einer Deeskalation des Konflikts komme (Szenario 7).

Markus Herrmann ging schliesslich mit Blick auf diese Szenarien auf verschiedene Gründe ein, die in seinen Augen gegen eine kurzfristige Eskalation in der Taiwan-Strasse sprechen. Ein Grund sei, dass die militärische Abschreckung zu funktionieren scheine. Weitere Gründe seien, dass kritische Abhängigkeiten vor allem von der taiwanesischen Halbleiterproduktion bestehen, dass das Militär noch nicht modernisiert sei und dass der Ausgang des russischen Kriegs gegen die Ukraine nicht klar sei. Ausserdem bestünden substanzielle Zielkonflikte mit innenpolitischen Prioritäten der Führung der kommunistischen Partei (KPCh). Die Partei habe unverändert die Präferenz für eine nicht-militärische Lösung. So sei Wang Huning, Spitzenpolitiker in der KPCh und enger Berater von Parteivorsitzendem Xi Jinping, damit betraut, eine innovative Taiwanpolitik zu erarbeiten, die insbesondere mehr auf die People-¬to-People Dimension setzen will.

Der Ukraine-Krieg und die Rolle Chinas:
Das Plenum zeigte sich einig, dass die systemische Rivalität zwischen China und den USA zentral für das Verständnis des Ukraine-Krieges und seiner Lösungsoptionen ist. Zwar liefert China keine Waffen an Russland, doch vermeidet die Führung des Landes, Russland offiziell als Aggressor zu bezeichnen und spricht verharmlosend von einem «Ukraine-Konflikt». Diese Strategie der «pro-russischen Neutralität» ist in der doppelten Abhängigkeit Chinas sowohl vom Westen als auch von Russland, mit dem China eine 4.000 Kilometer lange Landesgrenze teilt, begründet. Zum einen ist die chinesische Wirtschaft durch die Globalisierung wirtschaftlich eng mit den USA und Europa verflochten. Zum anderen gebe es – so Markus Herrmann – auch Abhängigkeiten Chinas gegenüber seinem Nachbarn und langjährigen strategischen Partner Russland, wenn es um die Lieferungen von Energie, Nahrungsmitteln und militärischen Gütern gehe.

Ansprechpersonen

Dr. Vera Eichenauer
Dozentin am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften
  • LEE G 120

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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