Wie kann das Schweizer Rentensystem reformiert werden?
Der demografische Wandel stellt das Schweizer Rentensystem vor grosse Herausforderungen. Vier Experten und Expertinnen aus Wirtschaft und Wissenschaft diskutierten beim KOF Wirtschaftsforum über die Reform der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).
Das Schweizer Rentensystem ist in einer Schieflage und dringend reformbedürftig. Auf diesen Minimalkonsens konnten sich die Experten und Expertinnen beim KOF Wirtschaftsforum zum Thema «Wie kann die Altersvorsorge in der Schweiz langfristig überlebensfähig bleiben?» einigen. Doch in welche Richtung die Reformen gehen müssen, darüber entwickelte sich eine kontroverse Debatte zwischen den Diskussionsteilnehmenden Klaus Abberger (KOF), der Vorsorgeexpertin Veronica Weisser, Gabriela Medici (Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB) und Lukas Müller-Brunner (Schweizerischer Arbeitgeberverband). Moderiert wurde die Veranstaltung von Sina Freiermuth (KOF).
Aktueller Hintergrund der Debatte ist eine wichtige Abstimmung in diesem Herbst: Am 25. September 2022 wird die Schweizer Bevölkerung über die Stabilisierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung («AHV 21») abstimmen. Das Referenzalter soll für Männer und Frauen auf 65 Jahre festgelegt werden; für Frauen also ein Jahr höher als bisher. Zudem soll der Übergang vom Erwerbsleben in die Pensionierung flexibler gestaltet werden können und stärkere Anreize zur Weiterführung der Erwerbstätigkeit im Rentenalter gesetzt werden. Die Mehrwertsteuer soll um 0.4 Prozentpunkte auf 8.1% erhöht werden und die zusätzlichen Einnahmen der AHV zufliessen.
Forschende Ökonomen pro «AHV 21»
Wie Klaus Abberger in seinem einführenden Referat hervorhob, spricht sich gemäss einer aktuellen Umfrage der KOF die Mehrzahl der in der Schweiz forschenden Ökonomen und Ökonominnen für die Reform «AHV 21» aus. In der KOF-NZZ Ökonomenumfrage vom August wurden Schweizer Wirtschaftswissenschafter gefragt, ob aus ökonomischer Sicht diese Reform im Gesamtpaket (Referenzalter, Flexibilisierungsmassnahmen und Mehrwertsteuererhöhung) überzeugt. 81% der Ökonominnen und Ökonomen, die eine Einschätzung abgaben, beurteilen die Reform als (eher) positiv, 9% als neutral und 9% als (eher) negativ. Auch unter den weiblichen Ökonomen gab es demnach keine erhöhte Ablehnung der Reform, auch wenn Frauen - sollte der Reformvorschlag vom Stimmvolk angenommen werden - ein Jahr länger arbeiten müssen.
Eine kritische Position gegenüber der Reform «AHV 21» nahm dagegen Gabriela Medici ein. Die SGB-Zentralsekretärin im Bereich Sozialversicherungen sprach von einer «einseitigen Rentenkürzung für die Frauen». Nach ihren Berechnungen würde die Reform zu 26 000 Franken weniger Einkommen für die Frauen führen. Zudem äusserte sie die Befürchtung, dass bei Annahme des Reformvorschlags in wenigen Jahren die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für beide Geschlechter folgen könnte. Stattdessen plädierte die studierte Juristin für eine leichte Anhebung der AHV-Beiträge. Dies sei angesichts langfristig steigender Reallöhne für die arbeitenden Bevölkerung verkraftbar.
«Gut gelungener Schweizer Kompromiss»
Lukas Müller-Brunner bezeichnete im Gegensatz dazu «AHV 21» als «gut gelungenen Schweizer Kompromiss». «Der Druck auf die AHV als grösstes Schweizer Sozialwerk ist enorm: Die Pensionierungswelle der Babyboomer-Generation ist im Gange und die Lebenserwartung steigt», so Müller-Brunner. Nach über 25 Jahren Reformblockade sei die Rentenreform «AHV 21» ein wichtiger Schritt für eine Sicherung der AHV. Er sprach sich zudem dafür aus, an dem System der drei Säulen der Altersvorsorge festzuhalten. Entscheidend sei nicht das «Entweder / Oder» zwischen den Säulen, sondern das «Und», sagte der Ressortleiter Sozialpolitik und Sozialversicherung des Schweizerischen Arbeitgeberverbands.
Im abschliessenden Referat räumte Veronica Weisser mit verschiedenen Narrativen, die sich hartnäckig im politischen Diskurs über die AHV halten, auf. So gehe es der heutigen Rentnergeneration deutlich besser als viele glauben. Die heutigen Rentner verfügen über die höchsten Vermögen und haben eine deutlich niedrigere Armutsquote als alle anderen Altersgruppen. Das heutige Rentensystem sei nicht generationengerecht, sondern belaste die junge Generation, vor allem junge Menschen mit Kindern, überproportional, so Weisser. « Die jungen Generationen werden aufgrund des demografischen Defizits einen tieferen Lebensstandard hinnehmen müssen. Es sind zu wenige Nachkommen und Migranten vorhanden sind, um die stark ausgebauten Umlagesysteme zu finanzieren », sagte sie. Die Ökonomin sprach sich dafür aus, auch in der Schweiz über ein höheres Renteneintrittsalter nachzudenken. Dies sei eine Möglichkeit den Wohnstand für alle Generationen zu erhalten. Das ein höheres Rentenalter durchaus möglich sei, zeige das Beispiel von Japan und Südkorea, wo das tatsächliche Renteneintrittsalter, bei 70 (Japan) bzw. sogar 72 Jahren (Südkorea) liege.
Die nächste öffentliche Veranstaltung der KOF findet am 5. Oktober statt. Dann geht es bei der KOF Prognosetagung um das Thema «Nach der Zinswende: Hohe Inflation, steigende Zinsen — Wie geht es jetzt mit der Schweizer Wirtschaft weiter?».
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