Spannende Debatte über Chancen und Grenzen von Prognosen
Wie zuverlässig sind wissenschaftliche Vorhersagen wirklich? Was beeinflusst sie und wo sind ihre Grenzen? Und werden in Zukunft Menschen oder Maschinen die besseren Prognosen machen? Um diese Fragen und um einen Blick auf aktuelle Prognosen zu Klima und Konjunktur ging es bei der diesjährigen KOF Prognosetagung.
«Zukunft im Blick: Chancen und Grenzen von Prognosen»: So lautete das Thema der KOF Prognosetagung 2024. Dabei stellten die vier Vortragenden – David Bosshart (Futurist und Philosoph), Marc Brütsch (Chefökonom bei Swiss Life), Sonia Seneviratne (Leiterin des Instituts für Atmosphäre und Klima an ETH Zürich) und KOF Direktor Jan-Egbert Sturm – interessante Perspektiven aus Wirtschaft, Klimaforschung und Philosophie vor. Vier zentrale Erkenntnisse aus den Vorträgen und der anschliessenden von Reto Lipp (SRF) moderierten Debatte sind:
1. Keine kräftige Erholung der Konjunktur in Sicht
Die Konjunkturerholung in der Schweiz verläuft harzig. Die Schweizer Binnenkonjunktur entwickelt sich – gestützt durch den privaten Konsum – zwar weiter positiv, aber die Schweizer Exportindustrie leidet (mit Ausnahme der Pharmaindustrie) unter der ausbleibenden Erholung in Europa. Vor allem aus den grossen europäischen Volkswirtschaften kommen kaum Konjunkturimpulse. «Deutschland befindet sich in einer Stagnation. In Frankreich läuft es etwas besser, aber ein kräftiger Aufschwung ist auch dort nicht in Sicht», sagte Jan-Egbert Sturm im Gespräch mit Reto Lipp. Erfreulich: Die Inflation in der Schweiz ist gesunken und die Reallöhne steigen endlich wieder.
2. Geopolitische Ereignisse sind ein Prognoserisiko
Konjunkturprognosen sind für Wirtschaftsakteure wie Unternehmen, Zentralbanken sowie Konsumenten und Konsumentinnen ein wichtiger Faktor zur Orientierung. Mit einem Blick auf die kommenden vier Quartale liegen prognostizierten Entwicklungen auch meist nah an der tatsächlichen Entwicklung. Allerdings können unvorhergesehene Ereignisse wie der Brexit, die Corona-Pandemie oder der Ukraine-Krieg Prognosen schnell veralten lassen und ein Update erfordern. «Wir bei Swiss Life gehen in unserem Basisszenario aktuell davon aus, dass sich Wachstum und Inflation im Gleichgewicht entwickeln und sich die Geldpolitik von restriktiv zu neutral ausrichtet», sagte Marc Brütsch. Diesem Szenario ordnet er eine Wahrscheinlichkeit von 65 Prozent zu. Möglich seien aber auch eine Rezession der Weltwirtschaft mit einer Rückkehr der Deflationsrisiken (20 Prozent Wahrscheinlichkeit) oder ein inflationärer Boom durch starke Impulse der Fiskalpolitik (15 Prozent Wahrscheinlichkeit).
3. Der Klimawandel könnte teuer werden
Prognosen spielen nicht nur für die Wirtschaft eine wichtige Rolle, sondern auch in Bezug auf den Klimawandel. Dieser könnte wieder negative Rückwirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung haben. Extreme Wetterereignisse wie Hochwasser, Dürren oder Waldbrände nehmen zu und gefährden Menschen, Landwirtschaft und Infrastruktur. «Mit 3°C globaler Erwärmung könnte das BIP jährlich um ca. zehn Prozent sinken», schätzt Sonia Seneviratne. «Änderungen der Klimaextreme nehmen mit jedem zusätzlichen zehntel Grad globaler Erwärmung zu», betonte sie. Deshalb müsse die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schnell und drastisch reduziert werden, im Idealfall um 50 Prozent bis 2030.
4. Daten und Fachwissen allein reichen nicht für gute Prognosen
David Bossart betonte in seinem mit Zitaten von grossen Denkern wie Hegel, Machiavelli oder Umberto Eco gewürzten Vortrag, wie komplex und anspruchsvoll Prognosen sind. «Menschen brauchen nicht in erster Linie immer noch mehr Infos und Wissen, sondern kluge Orientierung aus vertrauenswürdigen Quellen», sagte er. Reines Fachwissen, ohne einen Überblick über das Grosse und Ganze zu haben, qualifiziere noch nicht zum echten Experten. Neben der Datenqualität und der Wahl des richtigen Modells sei es für Prognostiker auch wichtig, die Grenzen, Schwächen und den eigenen Bias der Prognose zu verstehen.