«Unsere Forschung basiert auf Daten und Fakten, nicht auf Werturteilen»

Jan-Egbert Sturm und Hans Gersbach blicken auf das Jahr 2023 und 85 Jahre KOF zurück. Sie erläutern im Interview, wie sich das Institut neu aufgestellt hat und welche Beiträge es für die Schweizer Wirtschaft zukünftig liefern will.

KOF-Direktorium Jan-Egbert Sturm und Hans Gersbach
KOF-Direktorium Prof. Jan-Egbert Sturm und Prof. Hans Gersbach (v.l.n.r.) (André Springer)

Das Jahr 2023 war geprägt von vielen geopolitischen Spannungen wie den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, für die Schweiz aber auch von der Übernahme der Grossbank Credit Suisse (CS) oder Themen wie dem Arbeitskräftemangel. Wie hat sich das auf die Schweizer Wirtschaft ausgewirkt?

Jan-Egbert Sturm: Zu Beginn des Winters 2022/23 gab es grosse Befürchtungen, dass uns Gas und Öl ausgehen und wir in eine Energiekrise schlittern könnten. Das ist nicht im erwarteten Ausmass eingetreten, auch wegen des milden Winters. Das Jahr 2023 hat also im Vergleich zu den Erwartungen positiv begonnen. Allerdings hatte man sich eine etwas stärkere Erholung erhofft, als wir sie erlebt haben. Dann kam die Übernahme der CS durch die UBS und im Laufe des Jahres nahm der Gegenwind aus dem Ausland zu. Die zweite Jahreshälfte war für den exportorientierten Industriesektor aufgrund der schwachen Auslandskonjunktur eine echte Herausforderung. Und zumindest im vergangenen Winterhalbjahr befand sich der Sektor in einer Rezession.

Hans Gersbach
Prof. Hans Gersbach (André Springer)

Hans Gersbach: 2023 hat die geopolitischen Risiken für den internationalen Handel mit Gütern und Dienstleistungen, auch für die Schweiz, verstärkt ins Bewusstsein gebracht. Und das macht es notwendig, dass die Schweizer Politik, aber auch der private Sektor, Strategien entwickeln, wie die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit, der Schweizer Volkswirtschaft gegenüber solchen Risiken gesteigert werden kann. Der Zusammenbruch der CS hat einen negativen internationalen Reputationsschock ausgelöst und die Wettbewerbssituation für Bankdienstleistungen, vor allem für Firmen, verschlechtert. Und sie hat die alten Fragen wieder aufs Tapet gebracht, ob eine systemrelevante Bank, wenn sie in eine extreme Schieflage gerät, ohne grössere internationale Verwerfungen abgewickelt oder saniert werden kann.

«Die Entwicklungen 2023 haben es notwendig gemacht, dass die Politik und die Unternehmen Strategien entwickeln, wie die Resilienz der Schweizer Volkswirtschaft gesteigert werden kann.»
Prof. Hans Gersbach

Welche Rolle oder Funktion übernimmt die KOF bei solchen Ereignissen? Hat sich das in den vergangenen 85 Jahren verändert? Wie hat sich das Institut seit Bestehen insgesamt verändert?

Jan-Egbert Sturm: Die Aufgabe der KOF besteht darin, die Schweizer Wirtschaft zu beobachten, zu analysieren und auf dieser Basis herauszufinden, wohin die Reise gehen könnte. Diese Aufgabe hat sich über die Jahre nicht verändert. Aber die Rolle der Daten ist wichtiger geworden, wir sind forschungsorientierter geworden. Die KOF entwickelt sich mit der Gesellschaft mit.

Hans Gersbach: Bei allen wirtschaftspolitischen Fragen arbeitet die KOF sowohl mit Analysen als auch mit Informationen für die Entscheidungstragenden. Ich denke, zwei Fragen sind jetzt in den Vordergrund gerückt. Die eine ist, ob man bei der Bankenregulierung in Sachen «Too big to fail» noch mal richtig über die Bücher gehen muss. Ich glaube, da haben wir einiges an Input beitragen können. Und die zweite ist die Frage nach der Resilienz. Es gab einen Schub für uns, diese Frage viel stärker ins Zentrum zu rücken, und zu untersuchen, wie resilient die Schweizer Volkswirtschaft gegenüber geopolitischen und anderen Risiken ist und wie wir das mit geeigneten Analyseinstrumenten messen und bewerten können.

«Die Aufgabe der KOF ist es, die Schweizer Wirtschaft zu beobachten und zu analysieren. Das ist in all den Jahren gleich geblieben.»
Prof. Jan-Egbert Sturm

Es gab 2023 auch positive Entwicklungen. Der Technologiebereich hat einen ordentlichen Schub durch die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) bekommen, was wiederum die Börsen getrieben hat. Wird das auch die Realwirtschaft in den nächsten Jahren spürbar positiv beeinflussen? Sehen Sie es als einmaliges Phänomen oder ist es ein struktureller Wandel?

Hans Gersbach: Es hat sich gezeigt, dass Künstliche Intelligenz eine Technologie ist, die in die ganze Wirtschaft ausstrahlt, nicht nur in einen Sektor. Dadurch wird sie zukünftig positive Produktivitätseffekte haben. Die grossen Fragen sind definiert, sind momentan aber noch ungelöst: Wird die Produktivität der Mitarbeitenden durch KI gesteigert oder ersetzt? Und wie stark werden, neben der Produktivitätsentwicklung, Ungleichheitsphänomene z.B. durch Lohndifferenzen möglicherweise verschärft? Um der Entwicklung zu begegnen, muss das Ausbildungssystem angepasst werden. Das haben auch Forschungsarbeiten der KOF gezeigt. Beim bestehenden Ausbildungssystem hätte man schon Bedenken, dass der Strukturwandel in einigen Bereichen sehr rasch stattfinden könnte.

Vergrösserte Ansicht: Jan-Egbert Sturm
Prof. Jan-Egbert Sturm (André Springer)

Jan-Egbert Sturm: Das ist ein Prozess, der diesmal sehr schnell in Gang gekommen ist. Wenn ich mit Expertinnen und Experten aus der Wirtschaft spreche, bin ich überrascht, was bereits alles umgesetzt wurde. Man muss aufpassen, dass man KI nicht immer nur als Substitut für Arbeit sieht, es kann auch ein Komplement, also eine Ergänzung, sein. Wissenschaftliche Studien zeigen ganz klar, dass der Digitalisierungsschub der letzten 20, 30 Jahre zu einer Automatisierung von Prozessen geführt hat. Das waren Prozesse, die vor allem die Mittelschicht tangiert haben. Der Computer hat viele Arbeiten von gut ausgebildeten Personen, wie beispielsweise Buchhaltern, übernommen. Das hat zu einer gewissen Polarisierung und auch Ungleichheit geführt, wie Hans Gersbach es vorhin angesprochen hat. Der neue Technologieschub ist viel allgemeiner und muss nicht unbedingt grössere Auswirkungen auf die Einkommensverteilung haben, da er de facto in alle Sektoren hineinstrahlen wird und daher möglicherweise in seinen Auswirkungen gerechter sein wird. Strukturwandel führt immer zu sozialen Friktionen. Vielleicht werden diese anders sein als in der Vergangenheit.

Wenn wir jetzt nur auf das Jahr 2023 schauen, war die Einführung einer Geschäftsordnung und die neue Doppelspitze eine der wichtigsten Änderungen für die KOF. Wie haben Sie, Herr Gersbach, dieses Jahr wahrgenommen?

Hans Gersbach: Ich bin gut aufgenommen worden an der KOF und konnte sehr rasch mit den effektiven Arbeiten starten. Wir haben einen guten Modus gefunden, wie wir uns koordinieren, wie wir kommunizieren und wie wir die Arbeit aufteilen. Man sieht, dass an der KOF viele Projekte und Arbeiten laufen, und es ist sehr viel Kompetenz da und das heisst, man kann auch einiges machen.

In diesem Zuge ist auch das KOF Lab entstanden. Was ist seine Aufgabe?

Hans Gersbach: Im KOF Lab wollen wir eigentlich drei Ideen verwirklichen. Erstens sollen neue volkswirtschaftliche Ansätze und Analysen ausprobiert werden, um zu sehen, ob wir damit die Aufgaben von nationaler Bedeutung noch besser und umfassender erfüllen können. Zweitens sollen junge Forscherinnen und Forscher Gelegenheit haben, sich mit einer eigenen Sektion zu profilieren, sich weiterzuentwickeln und eigene Ideen einzubringen. Das Lab hat somit die Rolle eines Inkubators. Und drittens soll es für junge Forschende bei einer erfolgreichen Entwicklung ein Sprungbrett für eine permanente Position an der KOF sein. Das KOF Lab ist voll angelaufen mit vier Sektionen. Diese Struktur kann sich aber auch ändern. Es ein flexibler Inkubator.

«An der KOF ist viel Kompetenz vorhanden. Das heisst, man kann auch einiges machen.»
Prof. Hans Gersbach

Die heutige junge Generation gilt als sehr politisch. Nehmen Sie das auch bei jungen Forschenden in Ihrem Umfeld wahr? Ist das vereinbar mit der Rolle als Forschende oder muss man das trennen?

Jan-Egbert Sturm: Aus meiner Sicht sollte man versuchen, das so weit wie möglich zu trennen. Wir dürfen uns als Forschende nicht von Sachen leiten lassen, die subjektiv sind oder über die man einfach unterschiedlicher Meinung sein kann. Wir müssen uns datengetrieben, wissenschaftsgetrieben orientieren. Wenn die KOF nach aussen auftritt, ist die akademische Neutralität immer gewährleistet. Unsere Forschung basiert auf Daten und Fakten, nicht auf Werturteilen. Das heisst aber nicht, dass wir immer neutral sind, denn die Wissenschaft kann aus gewissen Optimierungsüberlegungen heraus aufzeigen, was ihrer «Meinung» nach relevant oder weniger relevant ist. Dabei muss man dann wissen, was man optimieren will, was das Ziel sein soll. Dann kann man sagen, was die Kosten und die Konsequenzen von Weg A und B sind. Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, Politik zu machen.

Hans Gersbach: Unsere Ambition ist ja, dass wir ein unabhängiger und integerer wissenschaftlicher Makler sind für alle Entscheidungstragenden. Und wenn Werturteile irgendwo ins Spiel kommen sollten, dann müssen die ganz klar auch als solche benannt werden. Natürlich spielen bei der Themenstellung, die man bearbeiten möchte, die eigenen Interessen eine Rolle.

«Akademische Neutralität ist bei uns gewährleistet.»
Prof. Jan-Egbert Sturm
Hans Gersbach
Prof. Hans Gersbach im Gespräch. (André Springer)

Werfen wir einen Blick auf das Jahr 2024: Was sind konkrete Pläne oder Themen für 2024?

Hans Gersbach: Wir haben Anfang des Jahres eine Studie zu den Herausforderungen für das Schweizer Innovationssystem gemacht. Zudem arbeiten wir an einer Studie zur Resilienz der Schweizer Volkswirtschaft, um zu sehen, wie wir beispielsweise durch geopolitische Risiken beeinflusst werden und wo wir uns Sorgen machen müssen und wo nicht. Wir evaluieren derzeit, welches Modell wir für die Mittelfristprognose und -szenarien verwenden wollen. Da planen wir, in diesem Jahr eine erste Version zu entwickeln. Dann werden wir uns auch zum Thema Bankenregulierung einbringen, wo es einen weiteren Bericht vom Finanzministerium geben wird. Zudem haben wir eine strategische Planung mit sieben thematischen Eckpunkten erstellt, deren Umsetzung 2024 beginnt.1

Jan-Egbert Sturm: Im Konjunkturbereich passen wir unsere Modelle laufend an und wir haben in den letzten Jahren intensiv an neuen Modellen gearbeitet. Diese sind mittlerweile im Einsatz. Derzeit arbeiten wir an der Art und Weise, wie wir die Prognosen veröffentlichen. Hier erwarte ich einige Veränderungen. Unsere ganze Publikationsstrategie wird nicht mehr so sein wie in der Vergangenheit. Da ist einiges im Gange und das ist mit viel Aufwand verbunden.

 

------------------------

1Mehr zu den strategischen Eckpunkten können Sie im Kapitel «Unser Institut» lesen.

Ansprechpersonen

Prof. Hans Gersbach
Co-​Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • 41 44 632 82 80

Zürichbergstrasse 18
8092 Zürich
Schweiz

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • +41 44 632 50 01

Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert