«Nicht nur wegen der Immobilienkrise steht China vor grossen Herausforderungen»

Die beiden KOF-Ökonomen Vera Eichenauer und Heiner Mikosch sprechen im Interview über die Schwächen der chinesischen Wirtschaft und die Auswirkungen auf die Schweizer Konjunktur.

Nach dem Ende der Corona-Lockdowns im letzten Jahr hatten sich viele Konjunkturbeobachter und Konjunkturbeobachterinnen ein Wiedererstarken Chinas erhofft. Warum ist dieser Effekt nicht eingetreten?
Mikosch: Der Corona-Aufholeffekt ist in China von der Immobilienkrise überlagert worden. China hat zwar auch andere Probleme wie zum Beispiel die demografische Entwicklung oder die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Aber diese Faktoren sorgen für langsam abflachende Wachstumsraten, nicht für einen Bruch im Wachstum. Den Bruch hat das Platzen der Immobilienblase ausgelöst. Die Immobilienkrise stellt China vor grosse Herausforderungen.

Vera Eichenauer, KOF-Ökonomin
«Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung ist gesunken. Dazu haben die strengen Corona-Massnahmen und dann der plötzliche Abbruch dieser Massnahmen wesentlich beigetragen.»
Vera Eichenauer, KOF-Ökonomin
Vera Eichenauer, KOF-Ökonomin

Warum ist der Immobilienmarkt so wichtig für die chinesische Wirtschaft?
Eichenauer: Viele Chinesen und Chinesinnen besitzen eine oder mehrere Wohnungen als Altersvorsorge. Die Ersparnisse der Chinesen und Chinesinnen stecken grösstenteils im Immobilienmarkt. Deshalb ist auch die Mittelschicht so stark von der Immobilienkrise betroffen.

Gibt es noch weitere Gründe für die Wirtschaftskrise in China?
Eichenauer: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung ist gesunken. Dazu haben die strengen Corona-Massnahmen und dann der plötzliche Abbruch dieser Massnahmen wesentlich beigetragen. Auch die plötzliche und überraschend massive Regulierung der Tech-Konzerne in den vergangenen Jahren hat zum Vertrauensverlust über die zukünftige Rolle der Privatwirtschaft in der chinesischen Wirtschaft beigetragen und schliesslich ist da die Jugendarbeitslosigkeit, was zu fehlendem Einkommen für Konsum führt.

Wie wirkt sich ein psychologischer Faktor wie das fehlende Vertrauen auf die Wirtschaft aus?
Mikosch: Man konsumiert und investiert nur, wenn man Vertrauen hat. Vor allem die Investitionen waren ein ganz wichtiger Faktor des chinesischen Wachstums in den letzten Jahrzehnten.

Wie lässt sich das Vertrauen wieder zurückgewinnen?
Eichenauer: Man könnte Menschen an der Armutsgrenze mit Konsumgutscheinen unterstützen. Oder man könnte das staatliche Rentensystem, was in China nur schwach ausgeprägt ist, stärken. Aber solche sozialpolitischen Massnahmen entsprechen nicht den Ideen der aktuellen Staatsleitung Chinas.

Mikosch: Die politische Führung folgt einem etwas anderen Mindset als ihre Vorgängerinnen. Die ökonomische Entwicklung für die breite Bevölkerung hat nicht mehr allerhöchste Priorität. Im Vordergrund steht das geopolitische Giganten-Duell mit den USA.

Stösst vielleicht auch das autoritäre Staatssystem an seine Grenzen?
Eichenauer: Ja, möglicherweise. Je stärker ein Land sich ökonomisch entwickelt, desto stärker sind Kreativität und Eigenständigkeit gefragt. Es reicht ab einem gewissen Entwicklungsstand nicht mehr, Produkte aus dem Westen zu kopieren (Reverse Engineering) und mit niedrigeren Produktionskosten herzustellen. Vielmehr muss man eigene Produkte entwickeln und ein sogenanntes Forward Engineering betreiben. Und darauf ist das chinesische Bildungssystem nicht ausgerichtet und es fehlt den Unternehmerinnen und Unternehmern das Vertrauen, dass sie die Früchte ihrer Arbeit ernten können.

Zurück zur Immobilienkrise: Könnte man jetzt einfach den Marktkräften vertrauen und auf eine Bereinigung des Marktes hoffen?
Mikosch: Prinzipiell ja, aber eine Marktbereinigung kann ein Jahrzehnt oder länger dauern und sehr schmerzhaft sein. Das haben wir in Spanien, Island, Japan oder in der Schweiz in den 90er-Jahren gesehen. Ich würde moderate staatliche Eingriffe befürworten. Der Staat könnte den verschuldeten privaten und halbstaatlichen Akteuren im Immobilienmarkt Möglichkeiten und Anreize zur Aufdeckung der Schulden und zur Umschuldung anbieten. So würde man die Schulden aus dem System bekommen, indem man sie teilweise abschreibt und teilweise in staatliche Bad Banks auslagert.

Was bedeutet die Wirtschaftskrise in China für die Schweizer Wirtschaft?
Eichenauer: Grundsätzlich ist die globale Wirtschaft – die USA vielleicht ausgenommen – am Straucheln. Die China-Krise wird davon noch verstärkt, statt dass, wie erhofft, die chinesischen Post-Corona-Konsummöglichkeiten die Weltwirtschaft ankurbeln. Das trifft die Schweizer Wirtschaft direkt, weil sie weniger Güter nach China exportieren kann, aber auch indirekt, weil andere exportorientierte Länder wie Deutschland weniger Vorprodukte aus der Schweiz nachfragen.

Mikosch: China ist nicht mehr nur die Werkbank der Welt, sondern mittlerweile als Nachfrager eine Konjunkturlokomotive. Wenn der Motor dieser Konjunkturlokomotive stottert, spürt das auch die Schweiz. Die Schweizer Uhrenindustrie exportiert zum Beispiel viele Luxusuhren nach China und ist daher durch die schwache Nachfrage betroffen. Zum Glück ist der chinesische Finanzsektor nicht internationalisiert. Deshalb wird die chinesische Immobilienkrise keine weltweite Finanzkrise auslösen. Evergrande ist kein zweites Lehman Brothers.

Sollte sich die Schweizer Exportwirtschaft zur Diversifizierung stärker in Richtung anderer asiatischer Länder orientieren? Indien hat ja beispielsweise in diesem Jahr China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst.
Eichenauer: Die Diversifizierung in den Lieferketten und Absatzmärkten ist definitiv eine gute Idee. Dies verringert Abhängigkeiten und erhöht die Widerstandsfähigkeit bei lokalen Produktionsproblemen. Andere asiatische Staaten werden von der chinesischen Schwäche profitieren, aber China allein aufgrund der Grösse des Landes nie ersetzen oder verdrängen können. Vietnam, Malaysia und Indonesien sind im Vergleich mit China einfach zu klein. Von daher kann sich die europäische Wirtschaft nicht komplett von China abkoppeln und das strebt aktuell auch niemand an. Insgesamt lohnt sich die wirtschaftliche Verflechtung. Indien hat zwar viel Potenzial, aber derzeit noch mit vielen internen Problemen, beispielsweise mit ethnischen Spannungen, zu kämpfen.

Heiner Mikosch, KOF-Ökonom
«China wird nicht mehr mit 5 bis 6% jährlich wachsen, kann aber mittelfristig ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 4% erreichen.  »
Heiner Mikosch, KOF-Ökonom
Heiner Mikosch, KOF-Ökonom

Manche Beobachter und Beobachterinnen sehen China vor einer unsichtbaren Wachstumsmauer stehen, der sogenannten Middle-Income-Trap, an der auch schon Länder wie Mexiko oder Argentinien gescheitert sind. Ist an dieser Theorie etwas dran?
Mikosch: Die Theorie der Middle-Income-Trap ist im Kern eine statistische Beobachtung, dass Entwicklungsländer ab einem gewissen Entwicklungsniveau nicht mehr stark wachsen. Ein zentrales Argument dahinter ist, dass sich ab einem bestimmten Niveau nur noch wenig Wachstum aus der Übernahme ausländischer Technologien generieren lässt und die Länder dann daran scheitern, eigene Grundlagen für technologischen Fortschritt zu schaffen. In der Realität gibt es allerdings vielfältige Gründe, warum verschiedene Länder mehr oder weniger wachsen. Die Middle-Income-Trap-Theorie hat sich aus meiner Sicht nicht als wissenschaftlicher Standard etabliert. Ich sehe China nicht an einer Wachstumsmauer, vielmehr sind noch starke Wachstumspotenziale da, zumal wenn es seine Immobilienkrise konsequent bewältigt. China wird nicht mehr mit 5 bis 6% jährlich wachsen, kann aber mittelfristig ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 4% erreichen.
 

Ansprechpersonen

Dr. Vera Eichenauer
Dozentin am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften
  • LEE G 120

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Heiner Mikosch
  • LEE G 205
  • +41 44 632 42 33

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
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