Warum schätzen private Haushalte die Inflation anders ein als Unternehmen und Prognoseeinrichtungen?

Seit Anfang 2023 werden die Schweizer Haushalte im Rahmen der Erhebung der Konsumentenstimmung des SECO zu ihren numerischen Inflationserwartungen befragt. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Inflationserwartungen der Haushalte über jenen von Prognoseeinrichtungen und ­Unternehmen sowie über den offiziellen Inflationsraten liegen. Trotz dieser Verzerrungen liefern die Umfrage­daten wertvolle Informationen, beispielsweise über die Verankerung der Inflations­erwartungen.

In einer Volkswirtschaft ist nicht nur das vorherrschende Preisniveau eine zentrale Grösse. Auch die Erwartungen über dessen zukünftige Entwicklung spielen eine wichtige Rolle. So sind z.B. die Preiserwartungen der privaten Haushalte für Investitions- und Sparentscheidungen, aber auch für das Kaufverhalten der privaten Haushalte zentral. Bei Lohngesprächen fliessen die individuellen Inflationserwartungen beider Parteien als Grundlage der Verhandlung ein. Die individuellen Wahrnehmungen und Erwartungen bezüglich der aktuellen und zukünftigen Preisentwicklung prägen somit das Wirtschaftsgeschehen. Ein fundiertes Verständnis für die Erwartungsbildung von privaten Haushalten dient somit letztlich auch der Gestaltung der Geld- und Fiskalpolitik.

Mit der jüngsten Erweiterung der Erhebung zur Konsumentenstimmung um zwei experimentelle Fragen zur künftigen Inflationsentwicklung schafft das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) eine neue Datengrundlage, um die Preiserwartungen der Schweizer Haushalte und deren Tragweite für die Wirtschaft besser zu verstehen. Begleitend zur Erstveröffentlichung der neuen Daten zeigt eine von der KOF erarbeitete Studie erste Befunde über die Haushaltserwartungen auf und ordnet diese mit bereits existierenden Resultaten aus der Literatur und aus anderen Ländern ein (Abberger et al., 2024). Einige Erkenntnisse daraus werden im vorliegenden Artikel kurz zusammengefasst.

Die Inflationserwartungen unterscheiden sich zwischen privaten Haushalten, Unternehmen und Prognoseeinrichtungen

Die subjektive Wahrnehmung der Inflation und die Erwartungen sind sehr heterogen zwischen Individuen und weichen tendenziell von den Erwartungen der Firmen und Prognoseeinrichtungen ab. Dies ist ein Phänomen, das schon seit Längerem in der empirischen Literatur festgehalten wird. Diese Abweichungen sind für verschiedene Länder und Zeiträume anhand von Daten aus etablierten Haushaltsbefragung wiederzufinden und gut dokumentiert (beispielsweise Arioli et al. [2016] für verschiedene europäische Länder).

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die neuen Daten zu den aggregierten Inflationserwartungen der Schweizer Haushalte Verzerrungen in Richtung überhöhter Erwartungen aufweisen. Sie liegen im Durchschnitt deutlich über den amtlich publizierten Inflationsraten und den Inflationserwartungen anderer Wirtschaftssubjekte wie Unternehmen und Prognoseeinrichtungen (siehe Grafik G 3).

Vergrösserte Ansicht: G 3: Inflationserwartungen der Haushalte liegen über jenen der Unternehmen
G 3: Inflationserwartungen der Haushalte liegen über jenen der Unternehmen

Konsumgewohnheiten prägen die Preiswahrnehmung der privaten Haushalte

In der Forschung wird eine Vielzahl von Hypothesen diskutiert, warum die Inflationserwartungen der privaten Haushalte verzerrt sind. Eine der häufigsten Erklärungen ist, dass private Haushalte aufgrund ihrer Konsumgewohnheiten und täglichen Aktivitäten bestimmte Preissignale häufiger wahrnehmen als andere Wirtschaftssubjekte, zum Beispiel Lebensmittel- oder Benzinpreise. Dies hat zur Folge, dass die Haushalte ihre Inflationserwartungen eher auf der Grundlage der von ihnen am häufigsten konsumierten Güter und Dienstleistungen entwickeln und weniger anhand des Anteils dieser Güter an den Gesamtausgaben des Warenkorbs, auf dem der Landesindex der Konsumentenpreise basiert. Die Inflationserwartungen werden somit durch die Preisentwicklung der am häufigsten konsumierten Güter und Dienstleistungen nach oben verzerrt.1

Inflationserfahrungen und Erinnerungen hallen in den Erwartungen nach

Ein weiterer Erklärungsansatz betont kognitive Aspekte wie Erfahrungen oder Erinnerungen als Einflussfaktoren für die Erwartungen über die zukünftige Inflationsentwicklung. Aus der Literatur geht über Zeit und Raum hinweg der robuste Befund hervor, dass Haushalte Erinnerungen an selbst erlebte Inflationsraten übergewichten (siehe zum Beispiel Malmendier und Nagel, 2016). Dementsprechend weisen Personen, die eine hohe Inflation erlebt haben, systematisch höhere Inflationserwartungen auf als Personen aus Generationen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben.

Darüber hinaus haben Haushalte häufig eine nach unten verzerrte Erinnerung an vergangene Preise, was tendenziell zu einer überhöhten Wahrnehmung der gegenwärtigen Inflation führt. Ausserdem achten Menschen stärker auf Preissteigerungen als auf Preissenkungen. Selbst in einem Umfeld niedriger oder negativer Inflation erwarten Haushalte häufig keine Deflation. Diese kognitive Vernachlässigung von Preissenkungen trägt damit zur allgemeinen Verzerrung der Inflationserwartung bei.

Haushalte messen verschiedenen Informationen bei der Erwartungsbildung unterschiedliche Bedeutung bei

Schliesslich spielt die Auswahl, Gewichtung und Verarbeitung öffentlicher Information, die direkt oder indirekt mit der Inflation zusammenhängt, eine entscheidende Rolle bei der Bildung der Inflationserwartungen der privaten Haushalte. Die Wahrnehmung der aktuellen Inflation ist ein besonders wichtiger Faktor bei der Erwartungsbildung. Ausserdem beeinflussen die von den Haushalten genutzten Informationskanäle ihre individuelle Informationsbasis, wobei einige den Nachrichten und Pressemitteilungen der Zentralbanken mehr Bedeutung beimessen als andere.

Die häufigere Nutzung traditioneller Medien wie Zeitungen oder Fernsehen ist mit genaueren Einschätzungen der vergangenen und erwarteten Inflation verbunden (siehe Weber et al., 2022). Und selbst gleicher Information schenken verschiedene Subjekte mehr oder weniger Aufmerksamkeit, je nachdem, wie sehr sie der Quelle vertrauen und inwieweit die neuen Informationen in ihr Weltbild passen. Nicht zuletzt hat jeder Mensch ein individuelles Verständnis der Informationen und interpretiert diese unterschiedlich.

Haushaltserwartungen spiegeln Änderungen der Inflation wider

Dass die durch Umfragen erhobenen Inflationserwartungen der privaten Haushalte trotz Verzerrungen wertvolle Signale und Informationen liefern, rückt mittlerweile stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Literatur. D’Acunto und Weber (2024) zeigen empirisch, dass unterschiedliche Konsum-, Spar-, Investitions- und Verschuldungsentscheidungen zwischen Individuen durch Unterschiede in ihren subjektiven Erwartungen teilweise erklärt werden können.

Aus makroökonomischer Sicht dürfte zudem neben dem Niveau auch der Verlauf der Inflationserwartungen interessant sein. Reagieren die Inflationserwartungen auf Bewegungen der tatsächlichen Inflationsrate oder auf geldpolitische Ankündigungen und Änderungen? Im Einklang mit der Abwärtsbewegung der tatsächlichen Inflationsrate in den vergangenen Monaten sind beispielsweise auch die kurzfristigen Inflationserwartungen der privaten Haushalte gesunken.

Die langfristigen Inflationserwartungen spielen für geldpolitische Analysen eine wichtige Rolle, da sie Aufschluss darüber geben, ob die Inflationserwartungen über den längeren Horizont verankert sind. Für die Schweiz sind beispielsweise die Inflationserwartungen der Prognostiker und Prognostikerinnen für den 5-Jahreshorizont gut verankert: Sie schwankten in den vergangenen Jahren nur wenig. Dies deutet darauf hin, dass sie die hohen Inflationsraten in den Jahren 2022 und 2023 als temporäre Erscheinung betrachtet haben und der preisstabilisierenden Strategie der Schweizerischen Nationalbank (SNB) das Vertrauen schenken, dass die Inflationsrate in der langen Frist wieder im definierten Zielband zu liegen kommt.

Die langfristigen Inflationserwartungen der Haushalte sind zwar volatiler als jene der Prognoseeinrichtungen und der Unternehmen, aber schwanken weniger als im kurzfristigen Horizont. Dies legt nahe, dass auch bei den Haushalten eine gewisse Verankerung der Erwartungen besteht. Da die Zeitreihe der Haushaltsdaten bis anhin jedoch noch relativ kurz ist, wird sich der Verlauf und dessen Aussagekraft sowie die Verankerung erst mit weiteren Beobachtungen in den kommenden Jahren noch präziser einschätzen lassen.

 

------------------------

1Diese Häufigkeitsverzerrung wurde in der Literatur mehrfach für Lebensmittelpreise nachgewiesen, zum Beispiel von D’Acunto et al. (2021).

Infobox

Um den Bedürfnissen der Datennutzenden bestmöglich zu entsprechen, wurde der Fragebogen der Konsumentenstimmung anlässlich der grundlegenden Weiterentwicklung der Umfrage 2023 um zwei experimentelle Fragen ergänzt. Im Rahmen dieser Fragen werden die Haushalte zu den numerischen Preiserwartungen befragt. externe Seite Die Resultate werden monatlich als experimentelle Zeitreihe auf den Webseiten des SECO publiziert.

Ansprechpersonen

Dr. Klaus Abberger
  • LEE G 121
  • +41 44 632 51 56

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Nina Mühlebach
  • LEE G 113
  • +41 44 633 86 09

KOF FB Konjunkturumfragen
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Pascal Seiler
  • LEE G 113
  • +41 44 632 89 44

KOF FB Konjunkturumfragen
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Stefanie Siegrist
  • LEE G 113
  • +41 44 632 09 71

KOF FB Konjunkturumfragen
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Literaturhinweise

Abberger, K., N. Mühlebach, P. Seiler, & S. Siegrist (2024): Studie zur Erhebung der Inflationserwartungen in der Umfrage der Schweizer Konsumentenstimmung. KOF Studien, Nr. 176. externe Seite https://doi.org/10.3929/ethz-b-000658102

Arioli, R., C. Bates, H. Dieden, I. Duca, R. Friz, C. Gayer, G. Kenny, A. Meyler, & I. Pavlova (2016): EU Consumers' quantitative inflation perceptions and expectations: An evaluation (Working Paper No. 038). European Commission.

D’Acunto, F., U. Malmendier, J. Ospina & M. Weber (2021a): Exposure to grocery prices and inflation expectations. Journal of Political Economy, 129(5), 1615–1639.

D’Acunto, F. & M. Weber (2024): Why survey-based subjective expectations are meaningful and important (Working Paper No. W32199). National Bureau of Economic Research.

Malmendier, U. & S. Nagel (2016): Learning from inflation experiences. The Quarterly Journal of Economics, 131(1), 53–87.

Weber, M., F. D’Acunto, Y. Gorodnichenko, & O. Coibion (2022): The subjective inflation expectations of households and firms: Measurement, determinants, and implications. Journal of Economic Perspectives, 36(3), 157–184.

Ähnliche Themen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert