Der KOF WBI: Ein wöchentlicher BIP-Indikator für die Schweiz

Die meisten traditionellen makroökonomischen Indikatoren waren nicht geeignet, um den drastischen konjunkturellen Einbruch im Frühjahr 2020 präzise und zeitnah zu erfassen. Dies rückte die Notwendigkeit einer hochfrequenten Konjunkturbeobachtung mit alternativen Daten, wie zum Beispiel Kreditkartentransaktionen, in den Fokus. Diese alternativen Datenquellen bieten wertvolle Einblicke, sind jedoch auch mit Problemen behaftet. 

Viruslinie

Infolge der Corona-Krise entstanden im vergangenen Jahr einige Hochfrequenzindikatoren für die wirtschaftliche Aktivität (vgl. z. B. die wöchentlichen Aktivitätsindikatoren der Federal Reserve Bank of New York, der Deutschen Bundesbank und der Österreichischen Nationalbank. In der Schweiz gibt es die KOF Aktivitätsindikatoren und den Index zur wöchentlichen Wirtschaftsaktivität des SECO). Diesen Indikatoren liegen häufig Daten zugrunde, die in der Konjunkturforschung sonst nur wenig Beachtung finden: Kreditkartenumsätze, Bargeldbezüge, Energieverbrauch, individuelles und öffentliches Verkehrsaufkommen, Mobilitätsdaten sowie Suchanfragen im Internet. Diese alternativen Daten weisen einige Eigenschaften auf, die eine statistische Interpretation erschweren. So fehlen beispielweise häufig Beobachtungen, die Daten werden unregelmässig oder verzögert publiziert und die Erhebungen finden in täglichen, wöchentlichen oder monatlichen Intervallen statt. Zudem ist unklar, wie gut die Indikatoren in normalen Zeiten mit der Wirtschaftsaktivität korrelieren – was auch daran liegt, dass viele alternative Daten erst seit Kurzem erhoben werden.

Bei der Schätzung und auch der Interpretation der Hochfrequenzindikatoren, die auf Basis dieser alternativen Daten entwickelt worden sind, gibt es viele Unterschiede. Sie entstehen häufig dadurch, dass aus den verfügbaren hochfrequenten Reihen ein gemeinsamer, erklärender Faktor gezogen wird. Dieser wird dann so skaliert, dass er für eine Referenzperiode mit den Zuwachsraten des BIP kohärent ist. Oft haben die publizierten Indikatoren die Interpretation einer Vorjahresveränderung des BIP. Dies war zu Beginn der Krise, als die Vorjahres-Basis stabil war, eine nützliche Information. Zum jetzigen Zeitpunkt, an dem sich die Corona-Krise jährt, werden Vorjahresveränderungen aber schwieriger zu interpretieren. Zudem finden durch die hohe Frequenz die traditionellen makroökonomischen Daten häufig weniger Beachtung in den Hochfrequenzindikatoren. Diese sind allerdings nicht grundsätzlich weniger zuverlässig geworden, nur waren sie eben in der Corona-Krise zu spät verfügbar. Deren Inklusion in einem Hochfrequenzindikator wäre daher generell von Vorteil.

Ein dynamisches Faktormodell mit alternativen Hochfrequenzdaten

Die KOF verwendet zur hochfrequenten Konjunkturbeobachtung in der Schweiz unter anderem ein dynamisches Faktormodell, das die wöchentliche Veränderung des realen (Sportevent-bereinigten) BIP der Schweiz schätzt.1  Der hochfrequente Faktor wird aus einem umfangreichen Datensatz extrahiert. Dieser enthält tägliche und wöchentliche alternative Daten, aber auch traditionelle monatliche Indikatoren wie die Konjunkturumfragen der KOF, Konsumentenstimmung, Detailhandelsumsätze oder Industrieproduktion. Dieser Modellansatz hat mehrere Vorteile: So können zum einen Daten in verschiedenen Frequenzen gleichzeitig berücksichtig werden, wobei temporale Restriktionen dafür sorgen, dass der hochfrequente Faktor korrekt durch die Indikatoren mit gleicher oder niedrigerer Frequenz erklärt wird. Zudem erlaubt die Integration von stochastischer Volatilität, dass der Faktor die sprunghaften Veränderungen zu Krisenzeiten besser abgreifen kann. Letztlich lässt das Modell serielle Korrelation in den Messfehlern zu, was die Präzision des Modells erhöht.

Der KOF WBI in den letzten 30 Jahren

Die Betrachtung von hochfrequenten Daten ist besonders während Zeiten von starken konjunkturellen Fluktuationen interessant. Grafik 11 zeigt den wöchentlichen BIP-Indikator der KOF seit 1990 zusammen mit einem 95%-Konfidenzintervall (in Blau) und der realisierten annualisierten Wachstumsrate des vierteljährlichen BIP gegenüber dem Vorquartal (in Rot). Die annualisierte Betrachtung erlaubt den direkten Vergleich von Wachstumsraten mit unterschiedlicher Frequenz.2 Da die Corona-Krise sämtliche bisherigen Schocks in den Schatten stellt, sind die starken vertikalen Ausschläge in dieser Grafik abgeschnitten.

KOF WBI seit 1990

Der Indikator entspricht ex-post einer Interpolation der vierteljährlich vom SECO veröffentlichten BIP-Wachstumsraten. Die Verwendung von hochfrequenten Indikatoren bringt hierbei jedoch interessante Einblicke in kurzfristige Entwicklungen und Wendepunkte. Während der Finanzkrise beispielsweise zeigt der BIP-Indikator bereits im August 2008 negative Wachstumsraten, mit einem Tiefpunkt Mitte November. Ab März 2009 wurde die wöchentliche Zuwachsrate wieder positiv. Die Entwicklung der wöchentlichen Wachstumsraten zeigt, dass sowohl der Abschwung als auch die nachfolgende Erholung sehr abrupt war, was sich durch einen Blick auf die Quartalszahlen nicht erfassen lässt. Am 15. Januar 2015 hob die Schweizerische Nationalbank unerwartet den Mindestkurs von 1.20 CHF/EUR auf. Dies führte zu einer raschen Aufwertung des Schweizer Frankens, den man seither als den «Frankenschock» bezeichnet. Das BIP sank um 0.7% in 2015Q1 und erholte sich im Folgequartal wieder stark um 2.7%. Der wöchentliche BIP-Indikator zeigt, dass der wirtschaftliche Abschwung unmittelbar nach dem Schock relativ stark war, dass aber eine starke Erholung bereits Ende Februar einsetzte. Dies verhinderte eine noch negativere Wachstumsrate für 2015Q1. Der Indikator zeigt ausserdem, dass die wirtschaftliche Aktivität im Durchschnitt des zweiten Quartals eher flach war und dass die starke vierteljährliche Wachstumsrate in erster Linie auf einen grossen statistischen Überhang aus dem ersten Quartal zurückging. Insgesamt zeigt die Analyse, dass der wöchentliche BIP-Indikator der KOF helfen kann, schnelle wirtschaftliche Schwankungen nach Schocks besser zu verstehen.

Noch nie da gewesene Fluktuationen im Frühjahr 2020

Grafik 12 zeigt den wöchentlichen BIP-Indikator der KOF für die Corona-Krise zusammen mit einem 95%-Konfidenzintervall und der tatsächlichen vierteljährlichen Wachstumsrate des BIP (annualisiert). Die vertikal gestrichelten Linien zeigen wichtige politische Entscheidungen während der Pandemie. Die Einschränkungen für Veranstaltungen und Zusammenkünfte von Personen wurden Ende Februar und Anfang März schrittweise erhöht und am 16. März beschloss der Bundesrat einen landesweiten Lockdown. Der wöchentliche BIP-Indikator zeigt, dass die wirtschaftliche Aktivität bereits vor der Abriegelung erheblich zurückgegangen war. Der Grund dafür ist, dass die Bevölkerung als Reaktion auf die Ausbreitung der Pandemie bereits ab Ende Februar ihre Mobilität und Konsumtätigkeit einschränkte.3 Der Lockdown drückte die Wachstumsraten weiter in den negativen Bereich und erreichte seinen Tiefststand Ende März mit wöchentlichen annualisierten Wachstumsraten von etwa -120%. Im April schrumpfte die Wirtschaftstätigkeit weiter, wenn auch mit weniger negativen Raten. Gewisse Läden durften Ende April wieder öffnen, womit die Wirtschaftstätigkeit auch wieder zu positiven Wachstumsraten zurückfand. Mitte Mai öffneten auch wieder alle anderen Läden und Gastronomiebetriebe, worauf sich die Wirtschaftstätigkeit mit ähnlich hohen Raten wie zuvor im Einbruch erholte. Zum Herbst hin kehrte das BIP-Wachstum allmählich zu «normalen» Raten zurück und erreichte im November etwa 2%. Die neuerlichen Einschränkungen Ende Dezember und Mitte Januar sorgten für eine erneute Abschwächung der Zuwachsraten auf bis zu -4.5% (siehe G 13). Es zeichnet sich aber kein derart starker Einbruch wie noch im Frühjahr 2020 ab. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Lockdown bei Weitem nicht so strikt ist und sowohl die Wirtschaft als auch die Bevölkerung zu einem gewissen Grad gelernt haben, mit der Pandemie umzugehen. Auch sind zurzeit weniger Wirtschaftszweige von den Massnahmen betroffen, insbesondere das Gastgewerbe und einzelne Dienstleistungsbranchen. In den sonstigen Sektoren hingegen stagniert aktuell die Geschäftslage oder hellt sich sogar auf.4  Insgesamt sinken die wöchentlichen BIP-Raten aber noch, wenn auch etwas verlangsamt mit zuletzt -2.4%. So deutet der KOF WBI alles in allem wohl auf ein leicht positives viertes Quartal hin, gefolgt von einem Rückgang des BIP im ersten Quartal.

KOF WBI seit 2020 und Entscheidungen des Bundesrats
KOF WBI am aktuellen Rand

Im Nachhinein ist man doch immer schlauer

Generell ist die Tatsache, dass ein Indikator die Konjunktur gut ex-post erklärt, noch kein hinreichendes Zeichen dafür, dass er auch in Echtzeit gut funktioniert. Am aktuellen Rand kann sich der Indikator ständig ändern, da neue Informationen aus späteren Datenveröffentlichungen zu Revisionen führen. Erste Veröffentlichungen stützen sich hauptsächlich auf schnell verfügbare alternative Daten. Traditionelle Indikatoren wie Unternehmensumfragen und Detailhandelsumsätze, die präzisere Signale für die BIP-Entwicklung liefern, aber auch das BIP selbst werden später veröffentlicht. Dadurch können potenziell falsche oder übertriebene Signale aus den alternativen Daten nachträglich korrigiert werden. Grafik 14 vergleicht den Indikator in seiner letzten verfügbaren Version mit der Echtzeitversion des Indikators (d. h. immer die erste Indikatorveröffentlichung). Die Abbildung zeigt, dass der Indikator die Corona-Krise im Allgemeinen recht gut in Echtzeit verfolgt hat. Dennoch wurde der Beginn des starken Abschwungs erst Anfang März erfasst und nicht bereits Ende Februar, wie der Indikator in seiner letzten Version mit allen verfügbaren Informationen nahelegt. Darüber hinaus zeigt die Echtzeitversion des Indikators eine langsamere Erholung im April und Mai und auch das Ausmass sowohl des Tiefpunktes im März als auch der Erholung im Mai wurden unterschätzt.  

KOF WBI während der Corona-Krise in Echtzeit

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1) Vgl. Eckert, F., P. Kronenberg, H. Mikosch, und S. Neuwirth (2020).

2) Die annualisierte Betrachtung macht die wöchentliche BIP-Veränderung, die sehr gering sein kann, vergleichbar mit intuitiveren Grössen auf Jahresbasis. Falls die wöchentliche BIP-Veränderung beispielsweise 0.1% anzeigt, beträgt die annualisierte Rate rund 5%. Dies bedeutet, dass das BIP bei dieser Rate über ein ganzes Jahr hinweg rund 5% zulegen würde.

3) Vgl. Eckert, F. und H. Mikosch (2020).

4) Vgl. KOF Konjunkturumfragen.

Literatur

Eckert, F. and H. Mikosch (2020): Mobility and sales activity during the Corona crisis: daily indicators for Switzerland. Swiss J Economics Statistics 156, 9. https://doi.org/10.1186/s41937-020-00055-9

Eckert, F., P. Kronenberg, H. Mikosch, und S. Neuwirth (2020): Tracking Economic Activity With Alternative High-Frequency Data. KOF Working Papers 488, KOF Swiss Economic Institute, ETH Zurich. https://doi.org/10.3929/ethz-b-000458723
 

Der «KOF WBI» ist Teil des «KOF Nowcasting Lab». Das «KOF Nowcasting Lab» ist ein Projekt der KOF, in dem verschiedene Methoden für die Prognose der BIP-Entwicklung in Echtzeit getestet werden.

Aktuelle Daten und Indikatoren zur derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie finden Sie hier.

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