«Bei der Einwanderung gibt es Gewinner und Verlierer»

KOF-Ökonom Andreas Beerli

KOF-Ökonom Andreas Beerli erklärt im Interview, warum Einwanderung aus ökonomischer Sicht unter dem Strich wünschenswert ist und in welchen Bereichen sich die Schweiz noch verbessern muss.

Ist Einwanderung aus ökonomischer Sicht etwas Gutes oder etwas Schlechtes?
Das kommt auf die Perspektive an. Bei der Einwanderung gibt es Gewinner und Verlierer. Aus Sicht der Einwandernden ist Einwanderung gut, weil sie so z.B. ihre Einkommenschancen erhöhen können. Aus Sicht der Unternehmen im Gastland ist Einwanderung positiv, weil diese so eine grössere Auswahl an Fachkräften haben. Potenzielle Verlierer von Einwanderung aus ökonomischer Sicht können – zumindest gefühlt – Einheimische sein, etwa dann, wenn durch die Einwanderung die Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt steigt. Ein Land, welches durch Abwanderung Arbeitskräfte verliert, kann unter Umständen auch negative Konsequenzen erleiden, z.B. dann, wenn vor allem junge Personen mit unternehmerischem Spirit das Land verlassen. Das hat zum Beispiel eine externe SeiteStudie über den «brain drain» in Italien gezeigt. Im Aggregat ist es aber aus Sicht der ökonomischen Theorie positiv, wenn die Produktionsfaktoren wie Arbeitskräfte oder Kapital möglichst mobil sind und sie dort eingesetzt werden können, wo sie am produktivsten sind.

Ist das Hervorbringen von Gewinnern und Verlierern auch der Grund, warum sich mit dem Thema Immigration erfolgreich Wahlkämpfe bestreiten lassen, wie Donald Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich oder Giorgia Meloni in Italien gezeigt haben?
Viele Menschen fürchten durch zu viel Einwanderung den Verlust von kultureller Identität, das Aufweichen oder die Veränderung von lokalen sozialen Normen oder eben stärkeren Wettbewerb um Jobs und andere Güter, ob sich das nun auf tatsächliche Änderungen bezieht oder auf Einzelbeobachtungen, ist eine andere Frage. Aus diesen Gefühlen lässt sich politisches Kapital schlagen. Das Denken in einer Insider-Gruppe und einer Outsider-Gruppe liegt quasi in der externe SeitePsychologie des Menschen. Deswegen ist Einwanderung ein emotionales Thema, mit dem sich politisch mobilisieren lässt.

«Die Eingewanderten sind in der Schweiz oft besser qualifiziert als die Einheimischen. In manchen Regionen, wie Zürich oder Zug, beträgt der Anteil der Tertiär-Qualifizierten unter den Neuzugewanderten stolze 75%.»
Andreas Beerli, KOF-Ökonom

Wie attraktiv ist die Schweiz als Einwanderungsland?
Für Erwerbstätige ist die Schweiz aufgrund der hohen Löhne und der hohen Lebensqualität sehr attraktiv. Die Schweiz ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einwanderungsland geworden. 1945 hatte die Schweiz weniger als fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Heute sind es 8.8 Millionen. Gemäss einem Szenario des Bundesamtes für Statistik (BFS) könnte die Einwohnerzahl der Schweiz im Jahr 2040 erstmals bei über 10 Millionen Menschen liegen.

Gibt es irgendwann einen Punkt, an dem die Schweiz Stopp sagen muss und keine weiteren Einwanderer mehr aufnehmen kann?
Die Schweiz könnte wohl gut noch für mehr Einwohner und Einwohnerinnen als heute eine gute Lebensgrundlage bieten. Andere europäische Länder von vergleichbarer Grösse und mit ähnlichem Lebensstandard haben teilweise eine höhere Population. Klar kann dies unter Umständen zu politischen Herausforderungen, z.B. bei der Raumplanung, und Verteilungskonflikten führen.

Mit welchem Mindset muss man diese Herausforderungen angehen?
Nach meiner Einschätzung stellt sich der Schweiz aus wirtschaftspolitischer Sicht die Herausforderung, wie man die Chance eines äusserst attraktiven Wirtschaftsstandorts mitten in Europa nutzt, der für viele Menschen eine Lebensgrundlage bieten und so Wert schaffen kann. Dafür braucht es wohl auch eine Offenheit gegenüber Immigranten, die mit stark nachgefragten Fähigkeiten und neuen Ideen kommen. Demgegenüber steht die Frage, wie man die Lebensqualität, die Kultur und den sozialen Zusammenhalt – was die Schweiz ebenfalls attraktiv und wettbewerbsfähig macht – erhält, vielleicht neu gestaltet und weiter ausbaut.

Bringen die Einwanderer und Einwanderinnen aus Sicht der Schweizer Wirtschaft die richtigen Qualifikationen mit?
Ja, das kann man so sagen. Die Eingewanderten sind in der Schweiz oft besser qualifiziert als die Einheimischen. In manchen Regionen, wie Zürich oder Zug, beträgt der Anteil der Tertiär-Qualifizierten unter den Neuzugewanderten stolze 75%. Das haben wir in einer externe SeiteStudie empirisch untersucht. Die Einwanderung ist hierzulande stark nachfragegetrieben. Selbst jene, die objektiv betrachtet niedrigqualifiziert sind, füllen oft Lücken im lokalen Arbeitsangebot. So ist es oft schwierig, genügend Schweizerinnen und Schweizer für die anstrengende Arbeit auf dem Bau, im Service oder in der Abfallentsorgung zu gewinnen. Das erklärt, warum die Profile der Immigrantinnen und Immigranten so gut zu den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft passen.

«Viele Flüchtlinge haben es in der Schweiz schwer, einen Fuss in den Arbeitsmarkt zu bekommen.»
Andreas Beerli, KOF-Ökonom

Gilt das auch für Personen mit Fluchthintergrund?
Die Qualifikationsstruktur bei den Flüchtlingen ist eine andere. Sie kommen ja nicht wegen der Jobs, sondern primär, weil in ihrem Heimatland Krieg herrscht, sie verfolgt werden etc. Viele Flüchtlinge haben es in der Schweiz schwer, einen Fuss in den Arbeitsmarkt zu bekommen.

Was sind die grössten Hürden für Flüchtlinge bei der Arbeitssuche?
Neben der Sprachhürde gibt es viele rechtliche Beschränkungen bei der Arbeitssuche, die wir in einer externe SeiteStudie genauer untersucht haben. Flüchtlinge mussten im untersuchten Zeithorizont (von 1999 bis 2016) nach ihrer Ankunft monatelang oder noch länger warten, bis sie überhaupt arbeiten durften. In gewissen Kantonen durften sie dann nur in bestimmten Sektoren wie der Landwirtschaft, dem Bau oder der Hotellerie arbeiten. Und oft mussten Unternehmen prioritär Einheimische einstellen. Das schwächt die Chancen von Personen mit Fluchthintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Fairerweise möchte ich hier noch festhalten, dass viele dieser Restriktionen inzwischen zumindest für vorläufig Aufgenommene nun komplett aufgehoben wurden. Diese gelten aber immer noch für Asylsuchende, von denen ja noch ein beachtlicher Teil in der Schweiz bleibt.

Gibt es weitere Hürden jenseits der politisch-gesellschaftlichen Dimension?
Neben rechtlichen Hürden könnten auch gesundheitliche Hürden eine wichtige Rolle spielen für die tiefe Arbeitsmarktpartizipation von Personen mit Fluchthintergrund. Viele von ihnen haben in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht traumatische Erfahrungen gemacht, die ihre psychische und physische Gesundheit auch hier in der Schweiz immer noch prägen kann. Studien zeigen darüber hinaus, dass der Zugang zu einer adäquaten Behandlung solcher Krankheitsbilder wie einer posttraumatischen Belastungsstörung für Personen mit Fluchthintergrund aus verschiedenen Gründen in der Schweiz unzureichend ist. In einer gross angelegten Studie in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich und dem Immigration Lab der ETH untersuchen wir nun, ob eine breit skalierbare psychologische Behandlungsmethode erste Abhilfe für belastete Personen schaffen kann und auch ihre Integration verbessert.

Gibt es Länder, in denen die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt besser gelingt?
Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, da unterschiedliche Gruppen von Flüchtlingen in verschiedenen Zielländern Schutz suchen und manche Zielländer nur sehr selektiv Asyl gewähren. Wenn man – wie in einer externe Seiteaktuellen Studie – einfach auf die Erwerbsquoten von Flüchtlingen jedes Jahr nach der Ankunft in verschiedenen Zielländern schaut und diese vergleicht, z.B. mit Einheimischen oder anderen Immigranten, dann schneiden z.B. die USA oder Kanada relativ gut ab – die Erwerbsquoten sind dort über 60% zehn Jahre nach der Einreise – während dem die Erwerbsquoten in manchen europäischen Ländern viel tiefer sind. Wie gesagt, erhalten diese Länder aber auch sehr unterschiedliche Asylsuchende, weshalb das eigentlich kein fairer Vergleich ist.

Wird die Migration nach Europa und in die Schweiz in den nächsten Jahrzehnten zunehmen?
Ja. Allein aufgrund des demografischen Wandels entsteht gerade in Nord- und Mitteleuropa ein grosser Bedarf an Arbeitskräften, der sich ohne Zuzug aus dem Ausland wohl kaum mildern lässt. Zudem dürften andere Faktoren wie der Klimawandel oder geopolitische Konflikte für eine zunehmende Migration sorgen.

Literatur:

Ahrens, A.; A. Beerli, D. Hangartner, S. Kurer, M. Siegenthaler (2023): The Labor Market Effects of Restricting Refugees’ Employment Opportunities. KOF Working Papers, vol. 510, Zurich: KOF Swiss Economic Institute, ETH Zurich.

Docquier, F.; H. Rapoport (2012): externe SeiteGlobalization, Brain Drain, and Development. Journal of Economic Literature, vol. 50, no. 3.

Efferson, C., R. Lalive, E. Fehr (2008): externe SeiteThe Coevolution of Cultural Groups and Ingroup Favoritism. Science, vol 321, Issue 5897.

Beerli, A.; J. Ruffner, M. Siegenthaler, G. Peri (2021): externe SeiteThe Abolition of Immigration Restrictions and the Performance of Firms and Workers: Evidence from Switzerland. American Economic Review, 111 (3): 976–1012.

Beerli, A.; R. Indergand, J. S. Kunz (2023): The Supply of Foreign Talent. externe SeiteHow skill-biased Technology Drives the Location Choice and Skills of New Immigrants. Journal of Population Economics, 36, 681–718.

Ansprechpersonen

Dr. Andreas Beerli
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 116
  • +41 44 633 82 35

KOF FB KOF Lab
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert